: Maßgeschneiderte Lebensqualität
Gehbehinderte, Rollstuhlfahrer und Menschen mit Gleichgewichtsstörungen können von speziell gefertigten Velos profitieren. Doch die Gefährte sind teuer und nicht leicht aufzutreiben ■ Von Anke Oxenfarth
Für Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder körperliche Handikaps haben, ist Rad fahren noch immer nicht ganz so selbstverständlich. Dabei gibt es inzwischen für viele Behinderungen das passende Fahrrad: Tandems für Blinde, (Falt-)Dreiräder für Menschen mit Gleichgewichtsstörungen oder Gehbehinderungen und Handbikes für Rollstuhlfahrer. Außerdem ist auch eine Menge Zubehör erhältlich, mit dem herkömmliche Fahrräder behindertengerecht umgebaut werden können. Allerdings sind behindertengerechte Räder ziemlich teuer und nicht immer einfach zu finden.
So logiert der erste auf Falträder spezialisierte Laden Berlins in der Wohnung des „Faltrad-Direktors“ Christoph Beck in Charlottenburg. Beck, seit vielen Jahren an Osteoporose erkrankt, hat zusammen mit Freunden ein faltbares Sesseldreirad entwickelt. Das Rad mit dem klingenden Namen Aiolos (griechischer Gott der Winde) ist eine echte Alternative zu den herkömmlichen Dreirädern für Menschen mit Gleichgewichtsstörungen oder Gehbehinderungen. „Der Schwerpunkt ist bei den normalen Kassen-Dreirädern einfach zu hoch“, erläutert Beck. „Auf- und Absteigen ohne fremde Hilfe war deshalb unheimlich schwierig, und beim Fahren hatte ich oft Angst, trotz der drei Räder umzukippen, weil das ganze Ding so instabil ist.“ Der tiefe Schwerpunkt des Aiolos dagegen erleichtert körperlich benachteiligten Menschen nicht nur den selbstständigen Ein- und Ausstieg, sondern sorgt auch für Sicherheit und Stabilität. Hochdruckreifen und eine verstellbare Federung ermöglichen leichtgängiges Fahren. Der Aiolos wiegt 18,5 Kilo und lässt sich in weniger als einer Minute von 170 auf 55 Zentimeter Länge zusammenfalten. So verpackt kann man das Faltrad überall hin mitnehmen, ohne in Bussen, U-Bahnen oder im Intercity extra Geld dafür zahlen zu müssen.
Eine gute Adresse für Leute, die im Rollstuhl sitzen und trotzdem Fahrrad fahren möchten, ist der kleine Laden „Velomanie“ in Berlin-Schöneberg, den Jens Ahrenberg und Ludwig Enßlin in der Crellestraße betreiben. Die beiden haben sich auf sogenannte Handbikes spezialisiert. Handbikes sind Fahrräder, die mit den Händen „getreten“ werden. Dafür wird ein Rollstuhl vorübergehend zum Dreirad, indem das Handbike an den Rollstuhl angekuppelt wird. Das geht kinderleicht und blitzschnell: In weniger als einer Minute können Rollis das Bike ohne fremde Hilfe an ihren Rollstuhl ankoppeln. Dazu fahren sie an den Vorbau heran, stellen die Steckverbindung her und betätigen einen Hebel, der die Vorderräder des Rollstuhls hochliftet. Das Handbike besitzt eine integrierte Nabenschaltung und eine „Rückzugsbremse“, die genau wie eine Rücktrittbremse funktioniert. Ahrenberg und Enßlin wollen aber nicht nur Handbikes verkaufen, sondern auch einen Ort der Begegnung für Menschen mit und ohne Behinderungen schaffen. Aus diesem Grunde organisieren sie einmal im Monat Rolli-Radtouren im Grunewald. Außerdem leistet das Velomanie-Team auch Basisarbeit mit Betroffenen für Betroffene und verhandelt mit Krankenkassen und Handbike-Herstellern. Ohne ausgiebige Beratung und Probefahrt verkauft Ahrenberg kein Rad. „Ein Rollstuhl muss passen wie ein guter Schuh. Das Gleiche gilt für ein Handbike. Darum suchen wir zusammen mit dem Rolli nach dem richtigen Modell und bauen es seinen Wünschen und Bedürfnissen gemäß um.“
Die Wahl des richtigen Rades ist nicht nur für das Wohlgefühl, sondern auch für den therapeutischen Nutzen entscheidend. Und der ist inzwischen bei Ärzten und Physiologen unumstritten: Handbikefahren wirkt dem sehr einseitigen und unphysiologischen Bewegungsablauf von Rollstuhlfahrenden entgegen, weil Muskelgruppen trainiert werden, die beim normalen Fahren im Rollstuhl nicht aktiv sind. Rücken-, Bauch- und Oberkörpermuskulatur, besonders die des Schultergürtels, werden gekräftigt. Der Handbiker sitzt außerdem aufrechter als ein normaler Rolli, dadurch kann er besser atmen, und Herz und Kreislauf kommen in Schwung. Auch der Stoffwechsel wird angeregt. Insgesamt bekommen Rollis durch Handbikefahren wieder ein besseres Gefühl für ihren Körper. Noch viel wichtiger als die medizinischen Effekte sind aber die psychologischen. Der Aktionsradius der RollstuhlfahrerInnen erweitert sich und die Selbstständigkeit wächst. „Man kann sich im Kiez viel besser alleine bewegen, kriegt mehr vom schönen Wetter und vom Leben auf der Straße mit“, sagt Anne Blum, seit einem Jahr begeisterte Handbikerin.
Die Kassen legen sich trotzdem häufig quer. Dabei gibt es ein Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom Mai 1994, das Handbikes als Reha-Hilfsmittel anerkennt. Der Haken an der Sache: Der Gerichtsentscheid bezog sich auf die Klage von Eltern eines 14jährigen Rollstuhlfahrers. Für Erwachsene, so argumentieren häufig die Kassen, stellen Handbikes keine Eingliederungshilfe dar. Bessere Karten haben berufstätige Rollis und Unfallopfer, denn da zahlt der Arbeitgeber oder die Versicherung des Verursachers. Menschen, die von Geburt an behindert sind, haben es häufig schwerer, von den Krankenkassen Geld für ein Handbike oder ein Faltrad zu bekommen. So müssen Rollstuhlfahrer bei ihrer Krankenkasse ein ärztliches Attest oder Rezept sowie einen Kostenvoranschlag für das Rad ihrer Wahl einreichen. Die Kasse prüft den Antrag, was bis zu sechs Monaten dauern kann. Wird der Antrag abgelehnt, kann binnen vier Wochen Widerspruch eingelegt werden. „Die Argumentation muss stimmen, deshalb formuliere ich den Widerspruch häufig zusammen mit dem Hersteller und dem Rolli“, erzählt Jens Ahrenberg. Lehnt die Kasse erneut ab, bleibt nur die Klage vor dem Sozialgericht. Doch Hartnäckigkeit lohnt sich. Ahrenberg: „Gut 90 Prozent der Fälle haben wir bisher gewonnen.“
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