Volkseigener Betrieb Krebs

taz-Serie „Jeden Tag ein guter Grund für den Atomausstieg“: Mühlhausen in Thüringen, 1986. Acht Arbeiter des VEB Kraftverkehr waschen Lastwagen aus Kiew, Gomel oder Minsk, die auf dem Weg in die Bundesrepublik sind. 1999. Sieben Arbeiter der Brigade sind tot, der letzte gerichtlich anerkannt als erstes deutsches Opfer der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Nummer acht lebt: Otto Zöllner  ■   Von Thomas Gerlach

„Na, Kläuschen, wo bist du?“ Otto Zöllner hat die Orientierung verloren. „Nee, der kann doch noch keinen Stein haben?“ Blaugrauer Schotter knirscht unter Zöllners Halbschuhen. Die Septembersonne sticht. Der Mühlhäuser Friedhof ist weitläufig, trotzdem liegen die Urnengräber eng, zwischen den Grabplatten passen kaum die Füsse durch. Urnengräber sind unpassend. Viel zu klein für einen ganzen Menschen, der Grabstein zu schwer, zu groß für die Urne, die einen knappen Meter unter ihm ruht.

Wo ist Kläuschen? Endlich. Ein weißes Holzkreuz neigt sich über frischer Erde, ein paar Blumentöpfe, schon etwas trocken, ein Strauß Astern. „Klaus Neukirch 27. 1. 1937 – 5. 7. 1999“.

Neukirch ist das erste, von einem deutschen Gericht anerkannte Tschernobyl-Opfer. Er war es, bis zum 5. Juli. Die Beerdigung war gut besucht, Kollegen von früher standen um das Grab, auch der ehemalige Chef vom Verkehrskombinat Erfurt. Da waren sie wieder beisammen, die Glieder in der Befehlskette, die Anfang Mai 1986 geschmiedet wurde: Der Kombinatsdirektor, der Betriebsteilleiter Neukirch und Werkstattchef Zöllner, zwei lebendig, einer tot. Die sechs letzten Glieder liegen schon einige Jahre unter der Erde, unter polierten Platten oder anonym auf der Wiese, hier oder vor der Stadt. Der Krebs und der Tod hat sie geholt und wieder zusammengebracht.

Zöllner ist zurück von den Toten, er hat die Manchesterhose wieder ausgezogen, in Shorts und gestreiftem Hemd sitzt er in der Hollywoodschaukel, gibt mit den Füssen Schwung, die blaue Polsterbank fängt an zu wippen, er faltet die Hände überm Bauch. Seine Frau hat Kaffee gebracht, vom Garten her plätschert ein Brunnen, eine Katze schleicht sich in die Garage. Eine Thüringer Spätsommeridylle, eine Idylle mit Thrill.

Wann genau der Anruf vom Verkehrskombinat Erfurt kam, weiß Zöllner nicht mehr. Am 26. April 1986 explodierte Block 4 des Atomkraftwerks im ukrainischen Tschernobyl, Anfang Mai kamen die ersten Lkws auf den Hof des VEB Kraftverkehr Mühlhausen gerollt. Der Kombinatsdirektor hatte Betriebsleiter Neukirch angerufen. Am Autobahngrenzübergang Wartha-Herleshausen schicke der Bundesgrenzschutz die Deutrans-Laster wieder zurück, Begründung: Zu hohe Strahlenwerte. Anfang Mai hatte die Reaktorkatastrophe die geteilte deutsche Öffentlichkeit erreicht. Der BGS packte an den Grenzübergangsstellen die Geigerzähler aus. In Schutzanzug, mit Gasmaske und mittels Schaum reinigten die Beamten die Autos und Lkws, die bei ihrer Fahrt durch den Osten zuviel Strahlung aufgesammelt hatten. Sie putzten die westdeutschen Gefährte. Die ostdeutschen mussten umdrehen, und das waren vor allem Deutrans-Lkws.

Deutrans – so hieß die zentrale DDR-Spedition, deren orangefarbenen Fahrzeuge über die Grenzen fuhren, nach West und Ost. Ein Teil der Laster kam aus Kiew, Gomel, Krakau, Minsk und hatte auf Planen, Frontscheiben und Kühlergrillen radioaktive Partikel mitgebracht. Die Fahrzeuge mussten schnell gewaschen werden, im internationalen Geschäft standen auch die DDR-Laster unter Zeitdruck. Der Betriebsteil Mühlhausen liegt nur 40 Kilometer vom Grenzübergang entfernt. Klarer Fall für die Kombinatsleitung: Neukirch müsse die Lkws waschen lassen. Alle. Auch die aus Dresden, Karl-Marx-Stadt, Leipzig und anderswo. Das Problem sollte so schnell wie möglich vom Tisch. Neukirch gab es an Otto Zöllner weiter.

„Tschernobyl? Das ist weit weg. Uns betrifft das nicht!“ Otto Zöllner gibt sich wieder einen Ruck. Radioaktivität hat etwas Theoretisches. Zöllner ist Autoschlosser. In ihm gehen die Alarmlampen bei anderen Dingen an: Altöl gehört nicht in den Ausguss, Batteriesäure zerfrisst Arbeitsanzug und Haut. Das Asbest der Bremsbeläge, da muss man vorsichtig sein. Da gab es mal eine Betriebsärztin, die hat das den Schlossern eingetrichtert. An Radioaktivität hat sie nicht gedacht, warum auch. Und im Mai 86 war sie nicht mehr da. Otto Zöllner bekam von Neukirch den Auftrag, die Waschtruppe zusammenzustellen. Für Zöllner gabs nicht viel zu überlegen. Er trommelte alle zusammen, die abkömmlich waren. Ein paar Schlosser und ein Busfahrer, der Hofdienst hatte, insgesamt acht mussten für die nächsten Wochen Gummistiefel mitbringen.

Otto Zöllner ist umsichtig. Er schiebt den Sonnenschirm weiter. Kräftig zerrt er an dem Fuß, damit der Gartentisch wieder im Schatten liegt, danach lässt er sich in die Hollywoodschaukel zurückfallen. Seine Frau ist längst ins Haus gegangen. Die Geschichte ist für sie nicht neu. Auf dem Waschplatz fingen sie an. Mit Wasserschlauch und Schrubber wuschen sie den unsichtbaren Dreck ab, spülten das Zeug hinunter in den Sammler. Der Waschplatz war ökologisch auf neuestem Stand: Das Wasser wurde gefiltert und zirkulierte, nur zehn Prozent Frischwasser mussten zugeführt werden.

Am vierten Tag brachte die Zivilverteidigung einen Geigerzähler. Der erleichterte die Arbeit: „Wenns knistert, wird gewaschen.“ Otto Zöllner maß mit dem Ding die Strahlenwerte, aufgeschrieben hat er sie nicht. Warum auch? Er liess sich vom Knistern des Geräts leiten. Manchmal musste die Truppe zwei-, drei-, gar viermal einen Lkw waschen, bis das Zählrohr schwieg. Klaus Neukirch kam mehrmals am Tag herüber und schaute sich die Sache an. „Na, hängt das Zeug sehr dran?“, habe er gefragt. Er hatte nochmals in Erfurt angerufen. Entwarnung. Ungefährlich. „Guckt euch mal die Leute im Uranbergbau an. Die laufen auch noch herum!“, habe man ihm gesagt, erinnert sich Otto Zöllner. Nein, er schüttelt den Kopf. „Da war keiner verunsichert.“ Auch nicht, als im Westfernsehen vor der Strahlung gewarnt wurde. „Man dachte doch, die übertreiben.“ Otto Zöllner greift mit dem Arm das Gestänge der Schaukel: „Man kannte sich in der Materie nicht aus“, sagt er. Radioaktivität hat etwas Theoretisches. Zunächst.

Die kleine Zufallsbrigade brachte es zu einer gewissen Routine. Kühler und Tank stellten sich als „Problemzonen“ heraus. Da saß das Zeug, da musste draufgehalten werden. Weit über 100 Lkws waren schließlich mit Schlauch und Schrubber dekontaminiert. Nach vier oder sechs Wochen war die Aktion vorbei, so genau weiss das Otto Zöllner nicht mehr. Es gab aufregendere Arbeiten, als tagein, tagaus mit nassen Klamotten Lkws zu waschen, die gar nicht verdreckt schienen. Irgendwann bekam jeder von Zöllner andere Arbeiten aufgebrummt. Die Truppe war aufgelöst.

Erika Zöllner steht im Garten, schneidet Blumen. Mit Bedacht stellt sie den Strauß zusammen. Immer wieder zupft sie an den Blättern. Otto Zöllner sieht seiner Frau zu, gibt der Schaukel neuen Schwung. Klar, die NVA hätte die Reinigung machen können, die hatten die Ausrüstung. „Man wollte da eben keine Unruhe reinbringen“, sinniert er.

Der erste starb an Lungenkrebs. Ziemlich genau drei Jahre später. Das passiert eben. Schicksal. Fünf Monate später stirbt der nächste an Krebs. Da kann man nichts machen. Bis 1992 sind die übrigen erkrankt, die damals dabei waren. Alle, außer Neukirch und Zöllner. Keiner von ihnen bringt seine Krankheit mit der Waschaktion zusammen. Krebs ist Schicksal. Außerdem haben sie sich aus den Augen verloren. Der VEB Kraftverkehr wurde 1990 verkleinert, nahezu aufgelöst. Nur noch Busse rollen vom Hof des neu gegründeten „Regionalverkehr Mühlhausen“. Der Waschplatz wird abgerissen. Der ehemalige Betriebsleiter Klaus Neukirch lässt sich als Anwalt nieder. Im September 1992 diagnostizieren die Ärzte bei ihm Darmkrebs.

Klaus Neukirch ist es, den eine Ahnung beschleicht. Bei seiner Darmoperation in Göttingen entdeckten die Ärzte zudem Prostatakrebs. Neukirch besorgt sich alles, was er über den Zusammenhang von Radioaktivität und Krebs bekommen kann. Irgendwann greift er zum Hörer, ruft Otto Zöllner an. Hier wirds kriminell, habe er gesagt, erinnert sich Zöllner. Und: Du wirst auch noch dran sein. Otto Zöllner „kriegt ein mulmiges Gefühl“. Ärzte schickten ihn durch die Röhre eines Computertomografen. Zöllner hält immer noch das Gestänge. Schatten tanzen auf dem Dach der Schaukel. „Komisch, das kann doch nicht stimmen. Die müssen sich irren!“ Zöllner hatte allen Grund, an dem Ergebnis zu zweifeln. Es stimmte: Kein Krebs. Nichts. Während die anderen operiert wurden, mit Chemie vollgestopft wurden, starben, werkelte Zöllner an seinem Haus, ließ das Dach decken, eine Heizung einbauen, riss Wände heraus. Der Schlosser arbeitet seit der Wende als Hausmeister.

Insgesamt vier Gutachten hatte Klaus Neukirch in Auftrag gegeben, alle stützen seine Vermutung. Das Zusammentreffen der beiden Krebsarten, unter denen er leide, habe eine Wahrscheinlichkeit von nur 1,1 Prozent bei seiner Altersgruppe, heißt es in einem der Untersuchungsberichte. Mit großer Wahrscheinlichkeit sei die überhöhte Strahlendosis Grund für den Krebs. Neukirch beantragt bei der „Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen“, den Krebs als Berufskrankheit anzuerkennen. Die gibt ein Gegengutachten in Auftrag. Ergebnis: Wahrscheinlicher sei es, dass es sich „um schicksalhafte Leiden“ handele. Neukirch klagt vor dem Sozialgericht Nordhausen. Geht an die Öffentlichkeit. Otto Zöllner geht mit. Zuerst rief die Bild-Zeitung an, dann der MDR, dann Sat.1, Pro7 und zuletzt „Fliege“. Neukirch und Zöllner wurden als ungleiches Paar durchs Fernsehen gereicht: Der vom Tode Gezeichnete neben seinem kerngesunden Kollegen, These und Antithese vereint auf dem Studiosofa. Ob er denn für die Waschtruppe seine Freunde oder seine Feinde ausgesucht habe, wollte eine Moderatorin vor laufender Kamera wissen. Otto Zöllner sagte: „Ich habe keine Feinde.“ Da gabs nichts zum Aussuchen. Fliege war besser: „Der ist so'n bisschen mitfühlend.“

Im Sommer 1998 erkennt das Sozialgericht Neukirchs Leiden als berufsbedingte Krankheit an. Über zwölf Jahre nach der Katastrophe ist er damit das erste offizielle Tschernobyl-Opfer Deutschlands. Doch der Rechtsstreit geht weiter, die Genossenschaft legt Berufung ein, die Sache hängt nun in Erfurt, neue Gutachten, neue Befragungen, ein neues Urteil, irgendwann. Seit über einem Jahr prüft die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung. Klaus Neukirch ist darüber gestorben, wie die anderen vor ihm auch. Nur, die haben nicht den Rechtsstreit gesucht.

„Gutachten kosten erst mal Geld. Und wenn man krank ist, zieht man nicht gern vor's Gericht.“ Otto Zöllner versteht seine toten Kollegen. Neukirch war da anders. „Wenn ich es erlebe, kann es sein, dass es bis nach Den Haag geht“, habe er ihm angekündigt. Otto Zöllner nippt am Mineralwasser. „Ich kann ja nicht klagen. Für mich ist die Sache nun erledigt.“ Zwei Monate ist der Klaus nun tot. Um Otto Zöllner wird es ruhig. Bis zum Winter will er das Haus isoliert haben, im Dezember hört er als Hausmeister auf, dann wird er 67. Es reicht.

„Irgendwie ists eigentümlich. Ich hatte wohl genügend Abwehrstoffe.“ Otto Zöllner versucht sich nicht mehr in Erklärungen. Er hat genug sinniert, als er noch mit Klaus Neukirch herumgefahren ist. Jetzt nimmt er es einfach hin.

Unbemerkt hat der Apothekenkurier eine Tüte vors Haus gelegt. Die Tabletten für Otto Zöllner sind nicht dabei. „Der Blutdruck ist ein bisschen zu hoch“, ruft er, springt in sein Auto, noch ist die Apotheke geöffnet. Übermorgen wollen sie in den Urlaub fahren, ins Zillertal. Seine Frau bleibt am Zaun, in der Hand hält sie die Tabletten, ihre Tabletten. Dann streckt sie die Arme nach vorn, die Handgelenke sind geschwollen: „Sehen Sie, und ich habs jetzt selber: Blutkrebs.“