: Für viele hat sich zu viel verändert
Noch nie seit der Wende vor zehn Jahren hatte Polen eine derartig unpopuläre Regierung wie heute. Den meisten BürgerInnen gehen die eingeschlagenen Reformen zu weit und viel zu schnell ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
In der Straßenbahn vor dem Bankplatz in Warschau stößt eine Frau in den Vierzigern ihren Nachbarn an, zeigt auf die Schlagzeile einer Zeitung: „Buzek bis 2001“ und kann es nicht fassen: „Warum geht er denn nicht? Die Reformen sind doch eine Katastrophe. Und dann die vielen Spione! Das hätte ich von der Solidarnosc nie gedacht. Die werde ich nie wieder wählen.“ Der von dem Ausbruch überraschte junge Mann will sich in kein längeres Gespräch ziehen lassen, sagt aber immerhin: „Buzek wird so lange gebraucht, bis die Reformen greifen. Wenn dann endlich alles funktioniert und die Regierung wieder Pluspunkte sammelt, wird er gehen müssen. Vorher bestimmt nicht.“
Noch nie seit der Wende von 1989 waren die Polen so unzufrieden mit einer Regierung. Nach Meinungsumfragen schätzen über 70 Prozent der Bevölkerung die Arbeit der Koalitionsregierung aus nationalkonservativer Wahlaktion Solidarnosc (AWS) und liberaler Freiheitsunion (UW) negativ ein. Jeder zweite Pole hält einen Rücktritt des gesamten Kabinetts für angezeigt. Besonders verärgert sind sie über den Ministerpräsidenten Jerzy Buzek, der statt zu regieren vor allem damit beschäftigt ist, die Dauerquerelen innerhalb der Koalition zu schlichten. Knapp 60 Prozent fordern seinen Rücktritt. Ohnehin werden für alle sichtbar die Fäden hinter den Kulissen von Marian Krzaklewski, dem Vorsitzenden der AWS und Chef der Gewerkschaft Solidarnosc, gezogen. Er tut es so selbstverständlich und machtbewusst, dass die einen immer stärker an seinem Demokratieverständnis zweifeln und die andern fordern, dass er nun endlich auch offiziell den Posten des Regierungschefs übernehmen solle. Doch Krzaklewski denkt gar nicht daran. Lächelnd erklärt er: „Über einen neuen Regierungschef denke ich erst nach, wenn wir die nächsten Wahlen gewonnen haben.“
Anders als Buzek, der die Rolle des Prügelknaben auf sich genommen hat, um Polen mit vier grundlegenden Reformen ins 21. Jahrhundert zu katapultieren, will Krzaklewski noch hoch hinaus. Am liebsten würde er schon bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 starten. Ein Negativimage als Regierungschef, der für die zum Teil misslungenen Reformen verantwortlich zeichnet, kann er sich nicht leisten.
Noch aber steigt die Unzufriedenheit im Lande. Für die meisten Polen hat sich zu viel auf einmal geändert. Am 1. Januar traten die Gebietsreform, die Gesundheits- und Rentenreform sowie das „Lustrationsgesetz“ in Kraft. Neun Jahre nach der Wende soll es dafür sorgen, dass keine ehemaligen Stasi-Spitzel in die höchsten Staatsämter aufsteigen können. Während die Menschen die Gebiets- und Verwaltungsreform noch einigermaßen verkrafteten und mit der Zeit die neuen Adressen der zuständigen Kreisämter, Krankenhäuser, Schulen und Altersheime kennen lernten, brach im Gesundheitswesen das Chaos aus. Patienten irrten vom „Arzt des ersten Kontaktes“ zum Facharzt und zurück, Klinikchefs sollten plötzlich ihre Krankenhäuser wirtschaftlich führen, Selbstständige konnten sich zunächst überhaupt nicht versichern, und für Kinder ohne eigenen Personalausweis war keine Behandlung vorgesehen. Dazu streikten noch die Narkoseärzte und später die Krankenschwestern. Der Gesundheitsminister musste seinen Hut nehmen.
Höchst verwirrend war für viele auch die gleichzeitig eingeführte Renten- und Versicherungsreform, die den Generationenvertrag auf ein kapitaldeckendes Rentensystem umstellen wird. Viele überforderte es, einen an der Börse notierten Rentenfonds auszuwählen, in den künftig ein Teil der Rentenbeiträge eingezahlt werden soll. Und auch mit der Schulreform, die zum 1. September in Kraft getreten ist, können viele Eltern noch nichts anfangen: Statt Auswendiglernen soll nun das Problemlösen im Mittelpunkt stehen.
Als hätten die Polen nicht genug damit zu tun, den neuen Alltag in den Griff zu bekommen, müssen sie sich fast täglich auch noch mit neuen Skandalen in der Regierung auseinander setzen. Korruption, Vetternwirtschaft und Unfähigkeit führten bereits im März zu einer ersten Kabinettsumbildung: acht Minister mussten gehen. Als jetzt der Innenminister und stellvertretende Ministerpräsident Janusz Tomaszewski den Hut nehmen musste, weil das „Lustrationsgericht“ wegen des Verdachts auf Stasi-Mitarbeit ein Verfahren gegen ihn eingeleitet hat, sank die Popularität der Regierung auf ihren Tiefpunkt. Wenn es ihr nicht gelingt, den Sinn all dieser Reformen zu vermitteln, wenn sie die Armen und Arbeitslosen sich selbst überlässt, könnte sie tatsächlich durch einen „Volksaufstand“ hinweg gefegt werden. Dazu hat der Bauernführer Andrzej Lepper aufgerufen. Am 24. September wollen 100.000 Unzufriedene Warschau blockieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen