: Spinat und Braunkohle zwischen den Seiten
Ob „Schach bei Vollmond“ von Wolfgang Ecke, Gedichte von Wolf Biermann oder ein Berufsverbotsroman: Wer Bücher wegwirft, entsorgt auch immer ein Stück eigener Vergangenheit. Eine kurze Sammelrezension von Büchern aus dem Mülleimer ■ Von Wladimir Kaminer
Je größer eine Familie ist, umso mehr Abfall produziert sie. Als meine Frau Olga ihr zweites Kind zur Welt brachte, mussten wir von den haushaltsüblichen 20-Liter-Müllsäcken auf die riesengroßen 50-Liter-Monster umsteigen. Doch selbst die bekamen wir mit allem möglichen Zeug voll.
Gewöhnlich renne ich abends, wenn es dunkel wird, fünf Treppen runter auf den Hof, wo unsere Müllcontainer stehen. Oft komme ich zu spät: Alle Container sind bereits voll. Mehr oder weniger sind alle Großstädter professionelle Müller. Es gehört einfach dazu. Letztens war der Container mit lauter Büchern überfüllt. Eine halbe Hausbibliothek lag da drin. Bestimmt ist wieder einer aus dem Haus weggezogen, dachte ich. Aus Neugier kippte ich den Container um.
Ich wollte erforschen, von welchem Kulturgut sich der zeitgenössische Leser im Schatten des neuen Jahrtausends verabschiedet. Die sogenannte Politliteratur, die circa ein Drittel des Bestands der Mülleimer-Bibliothek ausmachte, packte ich gleich wieder in den Container zurück. „Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR“ vom Leipziger Reclam-Verlag, Lenins „Staat und Revolution“, „Stilistische Grundtendenzen in Lenins Sprache“ aus dem Verlag Volk und Welt, Berlin 1970. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die Zeiten, die mit solchen Werken verbunden waren. Es müssen erst noch ein paar Generationswechsel stattfinden, ehe man ohne Verdruss und Vorurteile eins dieser Bücher wieder in die Hand nehmen kann.
Die heute nicht mehr aktuellen, plump wirkenden Sach- und Aufklärungsbücher, wie das von Hans Grotte „Woher die kleinen Kinder kommen“, ein „Ullstein-Ratgeber“ mit vielen Skizzen und Zeichnungen, erweckten auch keine Habgier in mir. Diese Problematik gehört der Vergangenheit an. Für mich als Vater ist es viel interessanter zu erfahren, wo die kleinen Kinder hingehen, wenn sie größer geworden sind; wenn sie also abhauen. Doch davon hat der Ullstein-Ratgeber keine Ahnung. Die restlichen Bücher nahm ich mit nach Hause.
Dort untersuchte ich in Ruhe meine Mülleimer-Bibliothek weiter: Zwei Romane von Peter de Lorent: „Die Hexenjagd: Ein Berufsverbotsroman“ und „Bin ich Verfassungsfeind?“ Der Autor und gleichzeitige Herausgeber war Redakteur der Hamburger Lehrerzeitung HLZ, hatte Berufsverbot bekommen, usw. Man merkt, dass damals in Hamburg tierisch was los gewesen sein muss. Dann „Die Blechtrommel“ von Günter Grass, ein Sammelband mit Gedichten von Wolf Biermann, und von Fritz Rudolf Fries „Leipzig am Herzen und die Welt dazu. Eine Weltreise“. „Wir stehen am Alex und schauen nach links“ so fängt Fries' Buch an. Und es geht eine Weltreise zwischen Berlin-Lichtenberg und Leipzig Hauptbahnhof los. Der Autor ist ein in Bilbao geborener Leipziger. Eine gemütliche kleine Welt tut sich da auf. Das Rattern der S-Bahn, der Geruch von Braunkohle und Rotkohl: Fritz aus Bilbao, wo steckst du heute?
„Schach bei Vollmond“ von Wolfgang Ecke; „20 spannende Kriminalfälle zum Selberlösen“, Band Nummer 7 einer ganzen „Ecke-Serie“. Wolfgang Ecke war der erste Jugendbuchautor, der mit dem „Goldenen Taschenbuch“ ausgezeichnet wurde. Über eine Million verkaufte Exemplare. Wer kennt nicht seine Fernsehsendungen „Aufgepaßt – Mitgemacht!“ und „Wer knackt die Nuß?“ Das waren noch Zeiten, da hat er wirklich was bewegt. Nun liegt er im Mülleimer und riecht nach Spinat.
„Das Nein in der Liebe – Abgrenzung und Hingabe in der erotischen Beziehung“. Muss jeder unbedingt mal lesen. Kapitel 1: „Liebe ohne Sexualität: Verschmelzung und Widerstand“. Kapitel 2: „Das versteckte Nein zerstört die Liebe“.
Ganz vorne steht eine Widmung: „Liebe Heike zum Geburtstag Herzliche Grüße Dein Jörg“. Heike, das ist bestimmt die Frau, die die Bücher wegschmissen hatte. Ich habe das Gefühl, ich kenne sie. Sie hat wahrscheinlich Literaturwissenschaft oder was Ähnliches in Leipzig studiert. Die ganze Zeit die Jungs angemacht und in Kneipen gesessen. Höchstwahrscheinlich haben wir sogar gemeinsame Bekannte: Sabine, die Ex-Frau von Horn, oder Gudrun, die jetzt Theater spielt.
Wieso wirfst du jetzt alle Bücher weg, sogar das von Jörg? Wo willst du hin? So schnell kann man doch seine Vergangenheit nicht entsorgen. Die steckt in einem drin. Egal wo man landet, muss man sich mit Abgrenzung und Hingabe beschäftigen.
Dann mein Landsmann Alexander Twardowski, auch von Reclam Leipzig, schon ein wenig zerfleddert. Mit Kriegs-Poem „Wassili Tjorkin“. Guter Soldat. Hübsche Strophen. Alles gereimt. Was hast du, Heike, gegen Wassili Tjorkin? Aus irgendeinem Grund hast du ihn dir doch angeschafft. Falls du deine scheinbare Erleichterung bereust, werde ich ihn für dich aufbewahren.
Im Übrigen, wenn du das hier liest: Besitzt du noch „Das Schloß der roten Affen“ von Wolfgang Ecke ? Den würde ich auch noch gerne haben. Und sei nicht so voreilig. Schmeiße nicht alles auf einmal über Bord.
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