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„Genießen Sie den Augenblick“

Der türkische Außenminister Cem stößt bei seinen EU-Kollegen auf Wohlwollen. Gute Chancen für Anerkennung als Beitrittskandidat  ■    Aus Brüssel Daniela Weingärtner

Zum ersten Mal seit zwei Jahren war gestern ein türkischer Minister bei der EU in Brüssel zu Gast. Der türkische Außenminister Ismail Cem bedankte sich für den Einsatz junger europäischer Helfer bei der Erdbebenkatastrophe in seinem Land. Die Diskussion beim Mittagessen mit den europäischen Amtskollegen sei „sehr offen“ gewesen. Einzelheiten zur Entwicklung der Menschenrechte in der Türkei ließ sich Cem allerdings nicht entlocken. Auch Fragen nach der türkischen Haltung zum EU-Beitritt des geteilten Zyperns wich er aus.

„Genießen Sie den Augenblick“ – mit diesem Rat an die Journalisten fasste die finnische Außenministerin die aktuellen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU zusammen. Ob der europäisch-türkische Dialog Zukunft habe, könne niemand mit Sicherheit sagen. Es gebe aber schon eine Gegeneinladung im November nach Istanbul anlässlich des dortigen OECD-Gipfels.

Während sich die EU-Außenminister auf ihrer Ratssitzung in Brüssel auf 30 Millionen Euro Wiederaufbauhilfe für die Erdbebenregionen der Türkei einigten, bebte dort ein weiteres Mal die Erde. Die Tatsache, dass auch Griechenland vergangene Woche von schweren Erdstößen betroffen war, hat die beiden verfeindeten Nachbarn einander näher gebracht. „Die totale Verkrampfung scheint verschwunden“, meinte ein Beobachter gestern in Brüssel. Der griechische Außenminister Georgios Pandreou hat versichert, dass Griechenland die humanitäre Hilfe für die Türkei nicht blockieren werde. Der deutsche Außenminister Fischer wertete diese Zusage als wichtige Botschaft der griechischen Seite.

Inzwischen scheint der Status eines Beitrittskandidaten für die Türkei in greifbare Nähe gerückt. Beim informellen Treffen der Außenminister vergangene Woche in Lappland signalisierte Papandreou, dass Griechenland dies unter Umständen akzeptieren würde. Allerdings stehen in Griechenland Wahlen bevor, und so könnte die Gelassenheit gegenüber dem Nachbarn schnell wieder innenpolitischer Polemik zum Opfer fallen.

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer äußerte sich gestern sehr deutlich zu den türkischen Erwartungen: „Ich hoffe, dass die Türkei in Helsinki den Status des Beitrittskandidaten bekommt. Allen Beteiligten ist klar, dass es sich um einen Nachbarn handelt, an dessen Wegdriften niemand – auch nicht Griechenland – ein Interesse haben kann.“

Mit Cems Besuch geht eine fast zweijährige Frostperiode zwischen der EU und der Türkei zu Ende. Die Türkei hatte den Dialog im Dezember 1997 abgebrochen, nachdem ihr beim Gipfel in Luxemburg der Kandidatenstatus verweigert worden war.

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