■ UN-Truppen sollen nun in Osttimor retten, was zu retten ist – zu spät, genau wie im Kosovo. Mit dem Einmarsch ist noch nicht viel gewonnen: Es wird schwierig, die Konfliktparteien unter Kontrolle zu bringen, Rache zu verhindern und eine zivile Gesellschaft aufzubauen. Genau wie im Kosovo. Betrachtungen Von Jutta Lietsch (Text) und Hans-Georg Gaul (Fotos): Warten auf die Freiheit
Die Flucht aus Dili begann in tiefer Nacht: Um zwei Uhr kletterten der Chef der UNO-Mission in Ost-Timor (Unamet), Ian Martin, seine Mitarbeiter und über tausend Osttimoresen leise in die wartenden Busse und Lastwagen. Schnell verließ der Konvoi das UNO-Hauptquartier in Richtung Flughafen Dili.
Er durchquerte eine zerstörte und verlassene Stadt, über der ein rauchiger Geruch hing. Australische Transportflugzeuge brachten die Flüchtlinge in die 600 Kilometer entfernte Stadt Darwin.
„Wir haben das Gebäude der UNO in Dili geschlossen“, gab der erschöpfte Unamet-Chef nach seiner Ankunft in Australien bekannt. Elf Tage nachdem er das Ergebnis des Referendums über die Zukunft Osttimors verkündet hatte, bei dem 78,5 Prozent sich gegen Indonesien und für die Unabhängigkeit Osttimors entschieden, musste er aufgeben. Nur zwölf Unamet-Mitarbeiter blieben zurück, um die Situation vor Ort weiter zu beobachten.
Die Hoffnung, dass die UNO in Osttimor bis zur Ankunft einer internationalen Friedenstruppe in Dili ausharren könnte, war schnell in Sorge umgeschlagen. Denn es wird noch Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis die Soldaten eintreffen, die sich derzeit in Australien, Neuseeland, den USA, Malaysia und mehreren asiatischen Nachbarländern bereitmachen.
Das liegt nicht nur an der schwierigen Organisation einer internationalen Truppe: Obwohl der indonesische Außenminister Ali Alatas derzeit bei der UNO in New York lächelnd wiederholt, er hoffe, dass die Intervention „so schnell wie möglich“ geschehe, versuchen Militärs und Politiker in Jakarta dies weiterhin so lange wie möglich zu verzögern. Abgeordnete forderten, dass die Australier, die Jakarta in den letzten Tagen besonders scharf kritisiert haben, auf keinen Fall an der Friedenstruppe beteiligt werden dürften. Andernfalls, so warnte er, würden die indonesischen Militärs sich zur Wehr setzen.
Solche Drohungen zeigen, wie heikel die Mission der internationalen Soldaten wird, die bald in Osttimor landen sollen: Werden sich die rund 25.000 Soldaten und Polizisten, die dort derzeit stationiert sind, friedlich verhalten? Wie werden die Milizen, die Armeechef Wiranto als „Waffenbrüder“ der indonesischen Truppen bezeichnet hat, reagieren? Bewaffneten Widerstand gegen UN-Truppen hat ein Milizenführer gestern bereits angekündigt. Und ob General Wiranto die lokalen Truppen kontrolliert – oder kontrollieren will –, ist fraglich.
BeobachterInnen fürchten, dass die Verantwortlichen in Jakarta und vor Ort auf Zeit spielen, um die Beweise ihrer Gräueltaten zu vernichten. Flüchtlinge und die wenigen Journalisten, die in den letzten Tagen aus Dili und anderen Regionen kamen, berichten von schrecklichen Szenen: Leichen, die verbrannt und ins Meer geworfen werden. Sie sahen Milizen, die Busse voller Flüchtlinge auf dem Weg ins indonesische Westtimor anhalten und alle jungen Männer herauszerren, deren Papiere zeigen, dass sie aus Orten kommen, wo die Unabhängigkeitsbewegung traditionell stark war.
„Wir werden euch nicht verlassen“, hatte die UNO in Osttimor auf blauen Transparenten versprochen, die vor dem Referendum über die Straßen gespannt waren und an Zäunen hingen.
Schon einmal hatten die Osttimoresen für den Wunsch nach Freiheit grausam bezahlt: Das war 1975, neun Tage nachdem die linke Fretilin-Partei die Unabhängigkeit ausgerufen hatte. Mit stillschweigender Ermutigung der USA und Australiens marschierten die Indonesier ein, die ein „Kuba vor der Haustür“ unter keinen Umständen akzeptieren wollten.
Das war der Beginn eines der dunkelsten und am meisten verschwiegenen Kapitels der indonesischen Armee. Vor den Bombardements, Strafaktionen, Vergewaltigungen und Folter flohen bis Ende der Siebzigerjahre mindestens 300.000 Menschen in die Berge – die Hälfte der Bevölkerung.
Bis zu zweihunderttausend Osttimoresen starben – ermordet, verhungert, an Erschöpfung und Krankheiten. Die Verantwortlichen für diese Gwalttaten sind bis heute in in der indonesischen Hauptstadt Jakarta einflussreich. Am Berg Mate Bean, wohin viele Osttimoresen auch heute wieder geflüchtet sind, kamen Tausende durch die Bomben des indonesischen Militärs um.
Die zweite Säule des „Befriedungsprogramms“ für Ost-Timor war nicht minder zerstörerisch: Ein dichtes Netz von Informanten legte sich über die kleine Inselhälfte, in deren Städten und Dörfern ohnehin in der Regel jeder jeden kannte. Nachbarn und Brüder wurden gezwungen, ihre Familien zu denunzieren. Nur flüsternd erzählten sich die Osttimoresen über die Folterzentren, die überall entstanden. Eine Flucht gab es nicht – außer der katholischen Kirche und den Stützpunkten der Guerilla.
Eigentlich waren weniger als die Hälfte der Osttimoresen Katholiken, als Portugal seine Kolonie nach dreihundert Jahren abrupt verließ. Doch unter der Armeeherrschaft Indonesiens wurde die katholische Kirche zum einzigen Schutzraum.
Es waren mutige Patres und Nonnen, Mitarbeiter der Caritas und anderer kirchlicher Hilfswerke, die zuerst begannen, die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, und die versuchten, die Opfer der indonesischen Gewaltherrschaft aus den Gefängnissen zu holen. Innerhalb weniger Jahre wuchs der Anteil der Katholiken auf über 80 Prozent der Bevölkerung.
Als Gegenreaktion auf die wachsende Bewegung für die Unabhängigkeit von Indonesien begann Jakarta, Indonesier von anderen Inseln in Osttimor anzusiedeln. Zwischen diesen Zuwanderern und den einheimischen Timoresen wuchsen die Spannungen. Aus den Neusiedlern und der Armee rekrutierten sich die Beamten und Geschäftsleute, die Osttimor in den vergangenen 24 Jahren beherrschten.
Jetzt hat sich der Kreis der Gewalt geschlossen. Die meisten die angesiedelten Indonesier sind geflüchtet. Verstört und dem Hungertode nahe sitzen Hunderttausende Osttimoresen nun in den Bergen oder Lagern. Nonnen und Priester sind teils ermordet, teils geflüchtet.
Die hauchdünne Schicht der gebildeten Osttimoresen, die das unabhängige Land aufbauen wollten, sind ebenfalls ermordet oder im Exil. Wenn die Friedenstruppen kommen, werden sie eine zweimal verratene und tief traumatisierte Gesellschaft vorfinden.Die zu befrieden und einen Weg in eine zivile Gesellschaft zu weisen wird mindestens ebenso schwierig wie im Kosovo.
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