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Wem die Stunde schlägt

■ Zeit des Übergangs: Elliott Carters Oper „What Next“ in einer Inszenierung von Nicolas Brieger in der Staatsoper Unter den Linden

Ein Crash. Jäh kommt die Kunst der Beschleunigung zum Stillstand. Es kracht. Und ruhig liegt der Fetisch da, dies heiß geliebte Vehikel der Mobilität. Betreiber und Mitbenutzer werden gewahr, dass sie noch leben. Mühsam setzt Erinnerung ein, das Unterbewusstsein tritt in Aktion und die Maulwerke. Eingeübte Mechanismen der Kommunikation geraten aus den Fugen, der Konsens muss mühsam zurückgewonnen werden. Eine bunt durchmischte Fahrgemeinschaft, halbwegs repräsentativ für unsere Gegenwart, wird zur Zwangs- und Notgemeinschaft – das ist der Handlungskern des Librettos von Paul Griffith, einem amerikanischen Kritiker und Musikschriftsteller der heute mittleren Generation.

Elliott Cook Carter, 1908 in New York geboren, an der Harvard University und bei Nadia Boulanger in Paris zum Komponisten ausgebildet, war ebenfalls intensiv als Musikkritiker tätig (seit 1935 bei der New York Herald Tribune und der Zeitschrift Modern Music), hat die extreme Alltagssituation in Musik gebracht. Vielleicht weil er in der Funktion als Rezensent oft von langatmigen Werken in Beschlag genommen wurde, rang er sich zu knapper Form durch. Eine Dreiviertelstunde muss genügen, um die Unfallfolgen aufzuarbeiten und die Frage aufzuwerfen, wie das Leben weitergeht, wie die an einem markanten Punkt miteinander verknüpften unterschiedlichen Lebenswege sich fortsetzen.

„What Next?“ ist die erste musikdramatische Arbeit des alten amerikanischen Freundes, der seit den Dreißigerjahren vor allem mit Sonaten, Quartetten, Konzerten und Oratorien hervortrat, die stilistisch von Hindemith und Strawinsky beeinflusst waren. In den letzten Jahrzehnten interessierte Elliott Carter vor allem das Verhältnis von Kollektiv und Individuum, von Realität und Traum.

Paul Griffiths Vesuchsanordnung bot ihm Gelegenheit, diesem Interesse noch einmal zu frönen und ein Resümee der gereiften kompositorischen Ideen zu versuchen. Unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim kommt „What Next“ in einer Inszenierung von Nicolas Brieger heute in der Lindenoper zur Uraufführung; kombiniert mit Arnold Schönbergs Kurzoper „Von heute auf morgen“, die am Ende der Zwanzigerjahre ja gleichfalls eine kritische Position zu einer „Zeit des Übergangs“ markierte.

Die Auftragsarbeit der Staatsoper erscheint weit und breit als einzig neues Stück in der hoch subventionierten Berliner Opernlandschaft. Im Übrigen dümpeln die Programmangebote auf ihren mittleren Kursen zwischen Mozart und Mélisande dahin, bieten eine kräftige Prise Puccini, muten äußerstenfalls Berg, Orff und Schönberg zu. Strauss und Mahler sind, jubiläums- oder festwochenbedingt, auch angesagt. In der allwaltenden Mediokrität der in eingefahrenen Bahnen dahintuckernden Spielpläne wirkt das Crash-Angebot eines Neunzigjährigen fast jugendfrisch. Das neue Opern-Berlin ist ganz das alte und geht mit der frohen Gewissheit ins nächste Jahrtausend, dass die lahmsten Enten am längsten fliegen.

Frieder Reininghaus

„What Next“. Staatsoper Unter den Linden, Premiere 16. 9, weitere Aufführungen am 18., 22. und 25. 9. jeweils 19.30 Uhr

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