: „Mitte – das ist Wosten!“
■ Der Neu-Berliner Matthias Wolfschmidt und der Alt-Berliner Sean Steinbach streiten 10 Jahre nach dem Mauerfall über das wahre Berlin, veränderte Kieze, und fehlendes Geschichtsbewusstsein
Wer schon lange in Westberlin wohnt, den zieht es selten in den Ostteil der Stadt. Die Neuen aus Westdeutschland hingegen fühlen sich dort anscheinend besonders wohl. Kreuzberg ist für die Neuen zu statisch, der Prenzlauer Berg für die Alten zu hip.
taz: Matthias, gibt es für dich in der Stadt noch eine Mauer?
Matthias Wolfschmidt: Meist kann ich den Verlauf nur erahnen. Ich muß trotz meiner vielen Besuche in den Achtzigerjahren den Verlauf der Mauer mühselig rekonstruieren. Insofern ist sie in meinem Kopf nicht vorhanden.
Sean Steinbach: Ja, klar gibt es eine Mauer. Je älter die Leute sind, desto mehr Ost-West-Mauer gibt es. Es gibt aber auch gesellschaftliche Mauern zwischen oben und unten.
Matthias: Ist der alte Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße immer noch eine Grenze für dich?
Sean: Natürlich. Dahinter, im ehemaligen Osten, verändert sich etwas. Zum Beispiel, wenn du ausländische Freunde hast. Die kommen nicht mehr mit, wenn es tiefer in den Osten hineingeht. Da kann es richtig unangenehm werden. Da ist ein ziemlich präsenter Nazischick.
Matthias: Stimmt. Die Mauer ist virtuell weiter in den Nordosten verschoben worden.
Sean: Und dann die Mauer zwischen den Reichen und Armen, die durch den Umzug der Regierung befördert wird. Zum Beispiel der Potsdamer Platz, wo du die ganze Arroganz der Herrschenden siehst. Viele alte Grundrechte, wie die Versammlungsfreiheit, gelten dort nicht mehr. Das ist Privatgelände, kein öffentlicher Raum mehr. Das ist Daimler-City. Die Freiheit liegt im Einkaufskorb.
Matthias: Das ist Kapital in Reinform. Aber nicht die Regierung.
Sean: Kannst du das trennen?
Matthias: Natürlich. Ich stehe für die parlamentarische Demokratie ein, so unvollkommen sie auch sein mag. Deshalb gibt es für mich einen wesentlichenUnterschied zwischen Daimler/Sony und dem Regierungsviertel. Übrigens kommt mir das Regierungsviertel in Berlin viel weniger synthetisch vor als das in Bonn. Hier gehe ich mittags aus meinem Büro heraus und da sind ganz normale Passanten.
Sean: Ich kann dem Regierungsumzug nichts abgewinnen. Da kommt eine Horde von Regierungsangestellten mit ihrem Sicherheitspersonal, stellt riesige Bauten hin, verändert und zerstört Strukturen in der Stadt. Alles wird etablierter, teurer.
Matthias: Wie hätte es denn sonst gehen sollen?
Sean: Man hätte das Volk ja mal fragen können.
Matthias: Okay. Aber Regierung wird sich nie in einem Milieu zwischen Ökoladen und Pogo-Bar abspielen.
Sean: Auf der einen Seite gibt es diesen gigantischen Reichtum, und dann siehst du einen Bezirk wie Kreuzberg, der eine hohe Arbeitslosigkeit und die höchste Kindersterblichkeit von allen Bezirken Berlins hat.
Matthias: Natürlich wird viel Geld in wenige Quadratmeter gepumpt. Der Umzug kann aber auch Impulse für die Stadt bringen. Es kommen viele Leute hierher, die Geld haben und auch Geld ausgeben werden. In den Kneipen, im Einzelhandel. Der Regierungsumzug zieht ja auch andere Branchen in die Stadt. Die Regierung ist nur die Vorhut.
Sean: Na ja, wenn es nur ums Geld geht? Bitte. Aber es gibt soziale Qualitäten, die kaputtgemacht werden. Es gibt gewachsene Kiezstrukturen, die sich an den Notwendigkeiten der Leute orientieren, etwa Mieterläden. Das wird abgestellt, denn jetzt muss das Geld an den Potsdamer Platz. Die Neuen in dieser Stadt haben kein Geschichtsbewusstsein.
Warum bist du als Westdeutscher nach Ostberlin gezogen?
Matthias: Ich wollte in eine offene Struktur ziehen. Im Prenzlauer Berg habe ich das Gefühl, dass das geht. Vieles ist witzig da und erfreulich bunt. Zudem ist die Reibung zwischen Ost und West spannend. Es gibt im Prenzlauer Berg genau solche Strukturen, wie Sean sie einfordert. Viele Wohnungen gibt es nur über einen Wohnberechtigungsschein. Die Behörden achten auf eine gemischte Struktur.
Solche Strukturen gibt es auch in Neukölln.
Sean: Da will doch niemand hin. Dort sind die Leute arm, schmutzig und haben Kampfhunde. Mit Kindern dort leben ist gar nicht witzig. Armut ist eben auch hässlich.
Wohnst du etwa deshalb seit 16 Jahren in Kreuzberg?
Sean: Das sind soziale Bindungen, die über die Jahre gewachsen sind. Das ist mein Kiez. Der hat sich allerdings seit dem Mauerfall verändert. Die politischen Aktivitäten haben stark abgenommen. Der Trend ist: Links sein ist nicht mehr so modern. Das merkt man selbst in Kreuzberg schon.
Matthias: Früher war ich oft in Kreuzberg, heute wohnen meine Freunde fast ausnahmslos in Prenzlauer Berg. In Kreuzberg sind die Strukturen seit fünfzehn, zwanzig Jahren gefestigt. Da wird sich in den nächsten Jahren nicht viel verändern. Ich habe den Eindruck, dass gerade typische Kreuzberger mit Leuten, die aus Bonn kommen, nichts zu tun haben wollen.
Sean: Nee, die gehören mal richtig durchgewackelt (lacht). Aber im Ernst: Bei diesen Neu-Berlinern geht mir fürchterlich auf den Keks, dass sie immer davon reden, das ist hip, das ist schick, und letztlich über viel hinwegsehen. Und das finde ich dann gar nicht hip. Die Geschichten, dass so viele bunte Leute herum laufen. Aber dann laufen auch noch welche mit einem Rudolf-Heß-T-Shirt herum. Alles ist Party. In Wahrheit ist das einfach zum Kotzen. In Kreuzberg können solche kurzhaarigen Gestalten auch mal einen auf die Glocke kriegen. Und deshalb bleibe ich in Kreuzberg.
Sean, gibt es für dich denn keine positiven Entwicklungen nach dem Fall der Mauer?
Sean: Die Leuten aus dem Osten haben einen anderen Erfahrungsschatz. Ich erlebe das intensiv.
Würdet ihr nach Marzahn oder Hohenschönhausen ziehen?
Sean: Ich habe mir das tatsächlich mal überlegt, weil Freunde von mir dahingezogen sind. Ich komme selbst aus so einer Neubausiedlung, deshalb hat das für mich nicht so einen Schrecken. Es ist auch sehr grün da. Im Prinzip ist das eine Schlafstadt.
Matthias: Das ist genau der Grund, warum ich da nicht hinziehen würde. Außerdem ist mir das DDR-Milieu fremd.
Wie würdet ihr denn den Bezirk Mitte beschreiben?
Sean: Das ist „Wosten“. Allerdings wird es immer toter dort. Der Mauerfall hatte gerade dort am Anfang viel Underground ermöglicht. Mittlerweile herrscht dort der Mainstream.
Matthias: Natürlich wird Mitte immer etablierter. Aber das mit dem Wosten stimmt. In dem Stadtteil durchmischt sich alles.
Sean: Aber ein lebendiges Zentrum kann Mitte mit der Friedrichstraße als Edel-Einkaufsmeile nicht werden. Da wohnen zu wenig Leute. Nur Luxus bringt kein Lebensgefühl. In Berlin wird es wie in der Vergangenheit viele Zentren geben. Wenn man mal eben einen Daimler kaufen will, ist die Friedrichstraße natürlich gut.
Interview: Annette Rollmann
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