: Verlag der Querulanten
Die Edition Nautilus, Verlag für das gute, zersetzende, dadaistische Buch, wird 25. Am Anfang haben sie nur so Texte gedruckt, die ihnen gefielen. Später wurde ein richtiger Verlag daraus, mit Lust am schönen Buch und gepflegter Selbstausbeutung ■ Von Susanne Messmer
Man kann sich das in den hübschesten Farben ausmalen: Es ist 1972, noch immer eine hoffnungsfrohe Zeit, die Jüngsten unter den 68ern hören auf, zum Friseur zu gehen, fliehen aufs Land und basteln an ihren privaten Utopien. Lutz Schultenburg, der Internationalist und Vorstadtprolet, wie er sich noch heute gern stilisiert, hat genug von seinem Broterwerb als Dekorateur. Lieber will er Berufsrevolutionär werden.
Nachdem Hanna Mittelstädt an der Uni in Kiel versucht hat, anarchistische Zellen zu gründen, geht sie nach Hamburg und trifft auf Lutz. Die beiden lernen Pierre Galissaire kennen, der gerade vom Mai 68 in Paris kommt und seinen Rucksack voller französischer Manifeste und Texte einer Künstlerorganisation hat, von der die beiden nie etwas gehört haben: den Situationisten.
Der Situationismus, ein 1957 von Guy Debord gegründeter Zusammenschluss von Schriftstellern und Künstlern, war – halb Anarcho, halb Dada – für die Revolutionierung des Alltags und Abschaffung der Kunst. In Paris schlugen sie sich mit Kleinkriminalität und Betteln durch, wobei sie es als Ausdruck wirklich gelebter Kunst ansahen, ohne einen Franc in der Tasche die ganze Nacht durchzubechern. Sie sahen sich als Zersetzer von Systemen und Institutionen. Vom Sozialismus hielten sie gar nichts. Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg waren begeistert. Ohne im entferntesten daran zu denken, einen Verlag zu gründen, übersetzten sie die Texte und druckten, ganz Selbsthilfeprojekt, all die Broschüren und Flugblätter, die sie selbst gern lesen wollten.
Kaum erstaunlich, dass sie bei der Linken auf Widerstand stießen – es war die Zeit für engagierte Literatur, Pädagogik, Arbeiterliteratur. Dada galt als dekadent. Es war auch ein großes Stück Querulantentum dabei, als die drei endlich entschieden, aus Nautilus einen „richtigen“ Verlag zu machen, einen hanseatischen Kaufmannsbetrieb, einen Betrieb mit Buchführung, Steuererklärung und Monatslohn für jeden. Es ist auch heute noch der Mut des tapferen Schneiderleins, der Nautilus so sympathisch macht.
Ein Nautilus, so will es das Lexikon, ist eine Art Tintenfisch mit Schale, aber auch der Name eines U-Boots, das als Erstes den Polarkreis unterquerte. Auf alle Fälle aber denkt man bei Nautilus an das wogende Meer, das alles und jeden verschlingen kann, wenn es schlechte Laune hat. Vielleicht denkt man bei Nautilus fälschlicherweise deshalb an Navigator, weil man nun schon seit 25 Jahren nicht nur an Fische und Schiffe denken muss, sondern auch an einen kleinen Verlag, der nun seinen triumphalen Geburtstag feiert: Nautilus haben es auf wundersame Weise geschafft, ihren Idealen und Interessen treu zu bleiben, verändern, bewegen, Grenzen verschieben wollen und trotzdem nicht untergehen. Inzwischen haben sie es auf über 250 Titel gebracht, mehr als 200 davon sind noch immer lieferbar, ein schöner Sieg Davids gegen Goliath bei der immer weiter zunehmenden Umschlagsgeschwindigkeit im deutschen Buchhandel.
Eine Heldentat, die sich wohl vor allem Hanna Mittelstädt auf die Fahnen schreiben sollte, die zunehmend die Protestantin in sich entdeckte. In einem lustigen und geistreich plaudernden Briefwechsel mit der Marburger Schriftstellerin Anna Rheinsberg, der im Frühjahr bei Nautilus erschienen ist, beschreibt sie, wie sehr ihr poetisch revolutionärer Elan von früher dem harten Alltag weichen musste, wie sehr der Gründergeist von damals zu einem Musterbeispiel für neoliberale Arbeitsverhältnisse im Verlag geworden ist: „Ich fühle mich eingezwängt in der Formularwelt“, schreibt sie. Und über ihre Kollegen: „Verdrängung, Kindergarten, Faulheit, die Mutter Gottes wird's schon richten, Katholikerei! Intelligente Männer über 40! Sie erwarten die Peitsche!“ Trotzdem auch immer noch das Glück: Alles wird wieder gut, mal gibt es „Zärtlichkeiten“ in der Ersatzfamilie, oder die druckfrischen Bücher trudeln ein.
Im Programm von Nautilus findet man heute nicht nur Bücher von wichtigen Dada- und Surrealisten, von André Breton, Max Ernst, George Grosz, Situationisten wie Guy Debord und Asger Jorn – meist verlegt in der wunderschönen Reihe, der kleinen Bücherei für Hand und Kopf, praktisch für Leser und Verleger gleichermaßen –, Nautilus verlegt hier Kuriosa und Seitenwege, die nicht in große Bücher passen. Eine Reihe, so ungewöhnlich im Einerlei des bundesdeutschen Taschenbuchdesigns, dass sich die meisten an sie erinnern können, als sie noch in den Buchläden an Mamas lila Stola hingen.
Es lässt sich schwer über einen Kamm scheren, was bei Nautilus so alles rauskommt: Junge deutsche Autoren wie Wiglaf Droste und Gerhard Henschel wurden hier verlegt, die hauseigene Zeitschrift Die Aktion, die große zwölfbändige Werkausgabe von Franz Jung: unfassbar, wie unbekannt dieser geniale Anarchist, Autobiograf, Dadaist und Schiffsdieb noch immer ist. Fast in den Abgrund hätte dieses Mammutwerk Nautilus getrieben – wäre da nicht ihr erfolgreichster Kassenschlager gewesen, das Büchlein zum Silvesterklamauk „Dinner For One“.
Eine Hand wäscht die andere: So gehört bei Nautilus nun mal dazu, dass Entscheidungen im Konsens getroffen und Einheitslohn für alle bezahlt wird. Und so lange noch kostbares Herzblut, Enthusiasmus und Überschwang dabei sind wie jetzt, wird wohl auch Hanna Mittelstädt das bisschen Selbstausbeutung noch eine Weile in Kauf nehmen. Herzlichen Glückwunsch! Und weiter mit Gebrüll! Der große Nautilus-Jubel-Festakt heute abend ab 20 Uhr in der Berliner literaturWERKstatt.
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