: Im Inneren der Roboter
Der Mythos Kraftwerk schien unerschütterlich. Doch die Maschine lebt: Das Ex-Mitglied Wolfgang Flür demontiert nun das Bild der Elektronikpioniere ■ Von George Lindt
Ihr Kennzeichen: Immer wenn man denkt, es käme nichts mehr, kommt doch noch mal was. Wie eben jetzt wieder, acht Jahre nach „The Mix“, ihrem heimlichen „Best of“. Nach über einem Jahrzehnt ohne neue Kompositionen wurde der schlafende Mythos für schlappe 400.000 Mark wachgeküsst. Doch Kraftwerk haben kein bahnbrechendes, gar revolutionäres Boing Boom Tschak von sich gegeben. Es hat bloß knirsch knartz gepiepst, und ihnen ist ein retrolastiger „Expo 2000“-Jingle entwichen.
Ob sie dafür ihren Taschenrechner benutzt haben oder mal wieder ein glühendes Brikett hinter den Heimcomputer geschmissen haben, weiß keiner. Der „Expo 2000“-Jingle ist Ausdruck eines Stillstands, vielleicht eher eines Schrittes nach hinten. Der Mythos Kraftwerk überlebt genau besehen nur, wenn man ihre Vergangenheit verklärt. Wie aber hätten sie ihre eigenen Ansprüche, immer dem technologischen Standard voraus zu sein, heute, in der Zeit von MP 3, Virtualität und Cyperspace einlösen wollen? Die Entwicklung ist Kraftwerk davongelaufen.
Wolfgang Flür, der 16 Jahre mitgewerkelt hat, hat jetzt ein Buch veröffentlicht, das dem „Stolz deutscher Elektromusik“ (Wiliam Orbit) einen schweren Schlag versetzt. Denn hier wird der avantgardistisch schützende Kunstschleier gelüftet, der sich um Kraftwerk gelegt hat. Flür schraubt durch simples Dahererzählen alles auf Normalmaß herunter. Das trifft, weil der Kraftwerk-Mythos auf Kälte, Präzision, Menschenferne gebaut ist.
Die Amerikaner sahen bereits Mitte der Siebziger, nachdem Kraftwerk sich vom Krautrock abgewandt hatten, die „Erben des Dritten Reiches“ gekommen, erkannten „Ingenieure einer deutschen Raketenfabrik“. Dieses Image war den Obergurus von Kraftwerk, Ralf Hütter und Florian Schneider, genauso wichtig wie das Artifizielle ihrer Musik selbst. Ihre Konfrontationsschwäche in Interviews bügelten sie mit aristokratischem Schweigen aus.
Dadurch provoziert man geschickt Gerüchte, Geschichten, die zur Legendenbildung beitragen. Kraftwerk wurden von der Musikpresse aus aller Welt heilig gesprochen, später gar zu „Urvätern des Techno“ (Westbam) erklärt. Unzählige Bands nennen sie als „wichtigsten musikalischen Einfluss“ (Depeche Mode). Dass Flürs Memoiren dieses Bild stören, zeigt bereits die erste Reaktion von Hütter und Schneider. Über ihre Rechtsanwälte verlangen sie die Entfernung ganzer Kapitel und Fotos. Kurzum: Das Buch soll vom Markt, wegen angeblicher Rufschädigung und Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte.
Umgekehrt waren sie weniger zimperlich. Wenn Ralf und Florian mal Interviews gaben, sprachen sie immer im Plural, im Sinne der Gruppe, obwohl sie nur sich selbst meinten, wie Flür zu berichten weiß. Wolfgang Flür und der vierte Kraftwerkianer Karl Bartos, der ebenfalls die Band verlassen hat, kamen immer weniger mit dem „elektronischen Lebensstil“ zurecht, den Kraftwerk nach außen hin verkörpern sollten. Dass Kraftwerk Roboter verschiedener Bauarten und Klassen waren, macht Flür gleich im Vorwort deutlich: „Ralf Hütter und Florian Schneider passten schon besser zusammen. Sie kamen aus wohlhabenden Elternhäusern, wo es nie an Geld gemangelt hat und schon gar nicht an Wissensbildung. Sie hatten elegante Umgangsformen und waren in jungen Jahren schon weit gereist. Karl und ich wussten dagegen, was es bedeutete, wenn einmal kein Geld da war oder jemand gefühlsmäßige Zuwendung brauchte.“ Eine Art Klassenwiderspruch durchzieht das gesamte Buch: „Ralf und Florian zeigten uns stolz neue Armbanduhren, die sie am Nachmittag in einem teuren Schmuckgeschäft am Broadway von ihrem Musikverlag als Bonus für die erfolgreiche Platte geschenkt bekommen haben. Ich fühlte mich betroffen, wie sehr sie sich von uns anderen absonderten und dass sie uns auch noch ihre wertvollen Geschenke vorführten“, erinnert sich Flür.
Nicht nur das emotionale Gefälle, auch der Angestelltenstatus von Flür und Bartos sorgte für Spannungen. Flür: „Ralf und Florian waren die Chefs, die Erfinder, die Macher, die haben sich auch nicht in die Karten schauen lassen. Keiner von uns anderen weiß, wie viele Platten sie verkauft hatten. Wir haben uns von Anfang an auf den Honorarmusiker eingelassen und wir waren zufrieden damit. Das war später manchmal ein bisschen merkwürdig, als wir gemerkt haben, dass die neben uns Millionäre werden und uns ging es gar nicht so gut.“ Und noch etwas erschwerte die Lage. Die Interessen der beiden Köpfe der Band, Ralf und Florian, schwenkte immer mehr zu sportlichen Höchstleistungen über: Sie fuhren Fahrrad. Im Kling-Klanglabor stapelten sich die neuesten Prospekte über Fahrradzubehör. Gleichzeitig traten sie musikalisch absolut auf der Stelle.
Dabei hatte alles so schön angefangen. Wolfgang Flürs Buch ist voller amüsanter Anekdoten: Es war ein aus heutiger Sicht eher mottenhafter Fernsehauftritt im ZDF, die für Flür eine Kehrtwende in der Karriere der Band einleitete. Hierfür erfand und baute er, der gerade eingestiegen war, das erste elektronische Schlagzeug, eine ulkige Konstruktion aus Pressspan, Blechplatten, Alufolie und unzähligen Drähten. Das Gerät war so neu, dass das ganze Fernsehstudio noch nach Pattex-Klebstoff gestunken haben soll. „Wer hätte damals schon den Knall gehabt, sich mit so einem selbst gebastelten elektronischen Schlagzeug vor das Publikum zu stellen und die Revolution im Trommeln zu propagieren?“, fragt er nicht ohne Stolz in seinen Erinnerungem.
Vor ein paar Tagen erst hat Wolfgang Flür erfahren, dass er auch dabei, als Erfinder des ersten elektronischen Schlagzeugs, das heute unter dem Namen Drumpad vermarktet wird, von seinen ehemaligen Kollegen über den Tisch gezogen worden ist. Es wurde ihm eine amerikanische Patenturkunde zugespielt, aus der hervorgeht, das Florian Schneider und Ralf Hütter sein elektronisches Schlagzeug beim Patentamt als ihre Idee angemeldet haben und dafür seit mehreren Jahren Geld kassieren.
Im Interview versucht Wolfgang Flür, von seiner sichtlichen Betroffenheit abzulenken. Nachdem er sich als Möbeldesigner und Messestandbauer versucht hatte, arbeitet er nun mit seinem Projekt Yamo mit dem Kollegen Kurt Dahlke von Atatak zusammen. Insgesamt schwankt er zwischen nostalgischen Erinnerungen, Trauer und Hoffnung auf Neues, berichtet von kraftwerkianischen Sindbad-Reisen und amerikanischen Liebesgöttinnen. In der gleichen Taktfrequenz wird ihm auch der unentknotbare Kabelsalat im Verhältnis zu seinen ehemaligen Freunden wieder deutlich. Man spürt verletzte Eitelkeit, die manchmal auch melancholisch stilisiert wirkt. Wie in seinem Buch erinnert er dabei an den C 3 PO-Roboter aus Star Wars: charmant und liebenswürdig, aber auch naiv, einfältig und arglos. Anstatt sich nun zu wehren und richtig auszupacken, ist das Buch eher zum kummervollen Tagebuch geraten, immer wieder ist vom Seelenschmerz die Rede, der Flür wie nach dem Scheitern einer Beziehung befallen habe. Schwermut stellt sich auch beim Leser ein: Vergisst man einmal solche Lächerlichkeiten der Gegenwart wie den Expo-Trailer, dann tut die Demontage des Mythos Kraftwerk durch Wolfgang Flür richtig weh.
Wolfgang Flür: „Kraftwerk. Ich war ein Roboter“. Hannibal 1999, 300 Seiten, ca. 35 DM
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