piwik no script img

(K)eine Künstlerkolonie

Warum sich Paul Klee und Kurt Schwitters nicht auf Baltrum trafen. Einsame Spaziergänge auf der unspektakulären, kleinsten ostfriesischen Insel setzen Gedankenspiele frei  ■   Von Johannes Winter

Klee, der Gauguin von Baltrum – nein. Der Strandhafer und nicht die Insulanerinnen sollen es dem Maler angetan haben.

Teestunde im Salon von Nr. 15. Die Hausherrin erzählt aus der Geschichte ihrer Insel: vom armseligen Fischerdorf zum adretten Meereskurort. Ab und zu schiebt sie Texte, Broschüren, Blätter zwischen das blaue Porzellan. Edelgard Graß sammelt solche Zeugnisse wie Strandgut. Über dem Kamin und seinen alten Delfter Kacheln tickt laut eine urige Seemannsuhr.

Zwischen Norderney und Langeoog gelegen, ist Baltrum eine der sieben ostfriesischen Inseln, die kleinste und ruhigste. Sucht Touristen mit dem Etikett „Dornröschen“ anzulocken. „Aschen-puttel“ ist verpönt. Eine halbe Stunde haben wir vom Festland mit der Fähre gebraucht. Einmal wurden die Kinder aufgeregt. Doch die Robben auf der nahen Sandbank blickten uns nur träge nach. Das Schiff legte an, und wir waren verblüfft. Kutschen und Karren warteten auf Menschen und Gepäck. Kein Auto weit und breit.

Heutzutage stehen auf Baltrum etwa 300 Häuser. Jedes hat seine Nummer, je niedriger desto älter. Straßennamen gibt es nicht, in Westdorf nicht und nicht in Ostdorf. So heißen die beiden Inselorte. Zeichensprache eines kargen Insellebens in der Nordsee. Das bewohnte Baltrum ist eine doppelte Fußgängerzone, das unbewohnte preist sich an als Teil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer.

Die offizielle Chronik der Insel erschien Mitte der Achtzigerjahre, käuflich ist sie noch immer in erster Auflage. Edelgard Graß zieht sie stolz aus dem Regal. Den Einband ziert ein farbiges Gemälde: Blick durchs Fenster auf ein rotes Haus. „Das ist unseres“, sagt sie.

Der Maler hat einen berühmten Namen. Paul Klee war hier, im Herbst 1923, mit Ehefrau Lily und Sohn Felix, zur Sommerfrische. Drei Wochen Urlaub vom Arbeitsplatz im legendären Bauhaus in Weimar. Spurlos?

Die Chronistin legt ein Dokument aus dem Hause Klee auf den Tisch. Es ist eine Liste von Aquarellen, die sog. „Nordseebilder“, darunter „Häuser an der Düne“, „Wattenmeer“, Dünenflora“ und unser „Fensterausblick“. – War Baltrum Paul Klees Tahiti?

Wir lassen uns den Wind um Nasen und Ohren wehen, spazieren von der Promenade, der ehemaligen „Wandelbahn“, hinunter auf den riesigen Nordseestrand. Die Brandung springt wie eine weiße Laufkatze aufs Land. Silbermöwen schweben und gleiten, Seeschwalben schießen und stürzen durch die Luft. Auch Himmelsziege und Baltrumer Nachtigall begegnen wir, Raritäten der Inselfauna. Es ist die Bekassine, ein ewig meckernder Schnepfenvogel, und es ist die hitzig quakende Kreuzkröte, denen die besondere sprachliche Zuneigung der Insulaner gilt.

Seit der Teestunde ist uns klar, es war beinahe ein Zufall, dass Paul Klee in jenem Sommer 1923 nach Baltrum reiste. Wo damals rund fünfzig niedrige Häuschen standen und zwei Hotels, ohne Strom, aber mit fließendem Wasser. Wo Männlein, Weiblein und Familien getrennte Strände hatten und Badekabinen, die auf Pferdekarren ins Wasser gezogen wurden. Wo das Verkehrsnetz aus Sandwegen bestand zwischen krummen Zäunen aus Wrackholz und kleinen Gärten mit der berühmten Baltrumer Kartoffel. Wo nachmittags ein Doppeldecker über die Strandkörbe düste, um den verwöhnten Gästen beim Baden ihre Tageszeitung aus der Luft zu liefern.

Der historische Zufall hieß Inflation. „Sie machte die tollsten Bocksprünge. Auf der Insel waren wir neben den Ureinwohnern die einzigen Gäste“, erinnerte sich Sohn Felix später. Die Reichsmark verstieg sich täglich in schwindelerregende Milliardenhöhen, so dass Klee den harten Franken seines Geburtslandes Schweiz für die Ferien im deutschen Norden verwenden musste. Denn eigentlich schlug sein Herz für die farbenprächtigen Gestade im sonnigen Süden.

Sohn Felix hat davon später einem japanischen Kunsthistoriker namens Sadao Wada erzählt. Sein Vater schwieg sich aus über Baltrum. Aber er hinterließ – unmittelbare Inspiration – 16 Aquarelle und drei Zeichnungen. Experten haben sie zu einer eigenen Schaffensperiode stilisiert, eben die „Nordseebilder“.

Ein zeitgenössischer Werbetext preist zwar „stille Zurückgezogenheit, beschauliches Feriendasein und Ausspannung nach hetzender Berufsarbeit als wirkliche Erholung“ an. Aber das „kleine, bescheidene, weltentlegene Eiland“ muss Paul Klee, der es in Weimar schon zu internationalem Ruhm und Ehrungen gebracht hatte, wohl eher wegen seiner besonderen Linien und Farben angezogen haben. Der Blick des Künstlers, gebannt von Horizont und Konturen zwischen Meer und Strand, Dünen und Wolken, Häusern und Himmel. Sein japanischer Biograph Wada – nicht Dada! – meint indessen, zwischen den Dünen auf ein Detail gestoßen zu sein, das Klees Stil in den folgenden Jahren sogar entscheidend beeinflusst habe.

Über rote Verbundsteinwege haben wir die Siedlung aus Hotels, Pensionen und Ferienhäusern verlassen. An der „Pastorenkuhle“ vorbei sind wir ins Tal der grauen Dünen gewandert. Baltrums höchster Hügel, sage und schreibe 19 m hoch ragend, hat uns einen hübschen Rundblick über die Nachbarinseln und das Festland beschert. Der anmutige Pfad heißt „Katastrophenweg“.

In der Ferne, zur Nordsee hin, erheben sich die weißen Dünen, und hier war es, wo der fernöstliche Forscher auf den Spuren Klees fündig geworden ist. Sadao Wada hat es der Strandhafer auf den Sandhügeln angetan. Seitdem wir dies wissen, sehen wir das Gewirr der hohen Halme und Stengel mit anderen Augen. Ob grün oder vertrocknet, das genügsame Dünengras liegt, von ewigen Winden gepeitscht, wie ein wabernder Teppich über den sandigen Hügeln. Sein wirres Muster bedeckt den Stoff, aus dem die Insel ist, und bewegt sich ruhelos in der Brise. Von fragilem Wuchs, gibt die grasige Pflanze den Dünen Halt. Zugleich schwankt sie wie Bambus in der Heimat unseres Kunstsachverständigen.

Dies muss, wie Wada nach einem seiner Spaziergänge bemerkte, ein unauslöschlicher Eindruck für den Maler Klee gewesen sein. Was für uns fast ein bisschen banal ist, adelt er zum „reizvollen, ja fantastischen Dünengras“. Noch in den Dreißigerjahren, meint er, ließen sich solche „organisch wirkenden, seltsam faserigen und büschelartigen Formen“ in Klees Bildern nachweisen. Nun denn, die Inselbewohnerinnen sind ihm eher nicht nahegegangen. Klee, der Gauguin von Baltrum – nein.

Er ist eben auch nicht in die Südsee gereist, sondern, auf der Heimreise, nach Hannover.

Unsere kleine Erkundung auf Baltrum würde dieser Exkurs unzweifelhaft sprengen, hätte Klee an der Leine nicht seinen Freund Kurt Schwitters besucht, immerhin beinahe eine Urlaubsbekanntschaft. Haben sich die beiden verpasst an der Nordsee?

Wir sind einmal mehr zum Tee geladen bei Edelgard Graß, die mit einer Preziose aufwartet. Es sind Fotos, die Kurt Schwitters im Kreise seiner Dada-Szene zeigen, sommerurlaubend auf Baltrum. Mit Piet Mondrian, Kate Steinitz, Naum Gabo und dem Russen El Lissitzky.

Mag sein, dass der Meister gerade einen seiner berühmten Merz-Abende zelebrierte, Happening und Literaturfest in einem. Sprachakrobat und Bürgerschreck, der er war, genoss es der Schöpfer der grotesken Damen „Auguste Bolte“ und „Anna Blume“, wilde Wortkaskaden zu seinem Gesamtkunstwerk „Merz“ in immer neuen Varianten zu fügen. Einen Sommer vor Paul Klees Aufenthalt ist das Eiland Ziel der Hannoveraner Schwitters-Gemeinde gewesen. Von einer Begegnung der Freunde Klee und Schwitters am Strand, in den Dünen oder im Hotel Küper ist im Graßschen Salon nichts bekannt. Sicher aber ist: Man kannte sich.

Was bewog den eigenwilligen Dadaisten Schwitters, Baltrum aufzusuchen? „Die Alltagsbege-benheiten fanden täglich in der Früh ab 6 Uhr statt. Schwitters, bewaffnet mit einem großen Rucksack, lief am Meerufer entlang und las die nachts vom Meer ausgespuckten Wertgegenstände auf, bestehend aus Holzbrettern, Tauen usw., und schaffte sie mühsam nach Hause.“

Kein Text zu Baltrum, aber ein verbindlicher Hinweis auf seine Unverdrossenheit, mit der er nicht weit von hier, an der holländischen Küste, Sommerfrische und Kunstproduktion zu verbinden wusste. Strandgut, aber auch „Landgut“ zu sammeln, war ihm Pläsier wie auch Berufung. Denn Schwitters hatte eine Leidenschaft für Collagen – und teilte sie mit Klee.

Mitten in Westdorf steht ein Pavillon, der schon den beiden berühmten Baltrum-Urlaubern ver-traut war, ein rot-weißes Rundhäuschen mit spitzem Dach. Allerlei Eis ist heute im Angebot. Zu Zeiten von Klee und Schwitters war dies die Strandkneipe mit der merkwürdigen Bezeichnung „Giftbud“. Doch die Urlauber lernten bald, dass hier nichts Verwerfliches über den Tresen ging. Es war schlicht der Ort, an dem es etwas „gift“. Zum Beispiel die neueste Flaschenpost.

Und so könnte es gewesen sein: Ein Mann stapft mit wehenden Haaren und hochgekrempelten Hosenbeinen durchs Watt. Voll bepackt und glückstrahlend läuft er einem zweiten Sammler von Strandgut über den Weg. Im Schatten der „Giftbud“ breiten sie ihre Schätze aus. Auf dem Holztisch türmen sich Muschelschalen und Seetang, Wrackholz und Taureste, Fischgebein und Robbenknochen. Und vergnügt beginnen Kurt und Paul zu tauschen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen