: In der Stadt, die es nicht gibt
Mit der neuen Ausgabe des „Kursbuchs“ verabschiedet sich das traditionelle Berlin-Feuilleton. Von jetzt an erzählt man sich einfach nur noch, was man so alles sieht. Die „FAZ“ hat darum auf ihren neuen „Berliner Seiten“ schon mal die Webcam eingeschaltet ■ Von Kolja Mensing
Der schönste Beitrag im neuen Kursbuch steht ganz am Schluss, heißt „Der todsichere Boom“ und besteht hauptsächlich aus Zahlen. Stefan Welzk, Wirtschaftswissenschaftler, berechnet aus allerlei statistischen Daten – Arbeitslosigkeit, schwindende Investitionszuschüsse, steigende Schwarzarbeit und verdeckte Migrationsbewegungen – den Untergang der Stadt: „Hier wird das Ideal neo- und ultraliberaler Gesellschaftsreformer real ausgebrütet und vorgelebt. Berlin als ein mitteleuropäisches Manila mit einem Kranz urwüchsiger Siedlungen bis hin zur polnischen Grenze.“
Das ist natürlich ein großer Quatsch. Nachdem man sich allerdings durch das Kursbuch Nr. 137 hindurchgelesen hat, macht einem der kleine Horrortext am Ende richtig Spaß. Einfach weil er der einzige Beitrag ist, den man bestimmt nicht erwartet hätte: Unter dem Titel „Berlin. Metropole“ (Rowohlt Berlin 1999. 192 Seiten, 18 DM) haben die Herausgeber des Kursbuch nämlich ansonsten exakt die Autoren versammelt, die schon seit Jahren immer wieder über diese Stadt schreiben: Monika Maron und György Dalos, Wolf Jobst Siedler und Klaus Hartung, Mark Siemons und Karl Schlögel.
Das sind die Berlin-Profis, die bei Bedarf jederzeit ein hübsch ausformuliertes, großstädtisches Thesenpapier abliefern und die den Dreischritt des Berlin-Feuilletons wie im Schlaf beherrschen. Erstens: Man beginne mit einem Klischee, damit auch der Leser in der Provinz sofort begreift, dass es um Berlin geht. Sehr beliebt ist die Baustelle: „Ich habe die Baustellensucht“, schreibt zum Beispiel der Zeit-Redakteur Klaus Hartung, und der Publizist und Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm stellt ein paar Seiten weiter fest, dass ganz Berlin „ein Baustellenparcours“ ist.
Zweitens: Man distanziere sich möglichst schnell wieder von diesem einleitenden Gemeinplatz und verwandele sich vom staunenden Touristen in den klarsichtigen Beobachter: „Berlin als wirkliche Stadt ist kein deutsches Bildungsgut [...] Gemeingut sind die Klischees“, so Hoffmann-Axthelm, und Hartung fordert: „Es wird Zeit, Berlin und die Berliner Republik realistisch zu sehen.“
Drittens dann das Historisieren oder Polemisieren, Theoretisieren oder sonstwas: Zum Schluss sollte man allerdings auf jeden Fall eine steile Berlin-These zur Hand haben oder mindestens ein mehr oder weniger aussagekräftiges Zitat: Hoffmann-Axthelm schließt mit der stadtplanerisch kühnen Aussicht, „die neue Herausforderung“ Berlins liege im Umgang mit den „leeren Flächen“ der Stadt, und Hartung hat bei Franz Hessel eine Stelle über den „demokratischen Stadtfrohsinn“ des Flaneurs nachgelesen – was immer uns das auch sagen soll. Dieser Dreischritt wird seit der Wiedervereinigung immer wieder abgearbeitet, und man wundert sich, woher dieser Wiederholungszwang seine neurotische Energie bezieht. Das neue Kursbuch bietet jetzt gerade in seiner ganz und gar unoriginellen Zusammenstellung die Möglichkeit, sich die dem Berlin-Feuilleton innewohnenden Triebkräfte noch einmal genauer anzusehen.
Eine wichtige Genreregel des Berlin-Feuilletons ist es, eine Prognose abzugeben: Man darf nicht einfach nur sagen, was ist oder was war, sondern muss nach vorne schauen. Klaus Hartung zum Beispiel sieht ein neues intellektuelles Zentrum entstehen, der Verleger Wolf Jobst-Siedler glaubt fest daran, dass „etwas Neues geboren werde aus diesem brodelnden Chaos“, und der Historiker Karl Schlögel beobachtet von Berlin aus den Wechsel von „der alten mitteleuropäischen Zeit“ zum neuen Mittel- und Osteuropa.
Seine Gewährsleute für diese Prognosen sucht man sich allerdings in der Vergangenheit, und zwar in einer ganz bestimmten Epoche: Die Berlin-Profis der Gegenwart beziehen sich allesamt auf die Berlin-Profis der Zeit zwischen 1900 und 1930. Man zitiert den Schriftsteller Joseph Roth, der für die Frankfurter Zeitung aus Berlin berichtete, den Flaneur Franz Hessel und den melancholischen Theoretiker Walter Benjamin. Georg Simmel wird natürlich erwähnt, der erste große Soziologe der Stadtmoderne – und immer wieder Karl Scheffler, der Kunsthistoriker und Stadtkritiker, der 1910 über die „Kolonialstadt Berlin“ und ihr flüchtiges Erscheinungsbild schrieb: Man bekommt diese Stadt nicht zu fassen.
„Über Karl Scheffler kommt man nicht hinaus“, gesteht Karl Schlögel, und er und seine Kollegen kommen auch über Roth, Hessel und Benjamin nicht hinaus. „Die Lektüre der eigenen Stadt hat begonnen“, schreibt Klaus Hartung über das Berlin der späten 90er-Jahre und seine Baustellen, auf denen er die Touristen und Ausflügler wie lauter kleine Flaneure herumwandern sieht: „Der verborgene Text der Straßen wird entziffert.“ Sind wir nicht alle ein bisschen Benjamin?
Der Spiegel zumindest entzifferte vor kurzem in einem knallbunten Titelthema den Moloch „New Berlin“ mit freudigem Schauern als „Labor“ und „eine der aufregendsten Städte der Welt“, deren Silhouette sich „nahezu wöchentlich verändert“: „unfertig, widersprüchlich, laut“. Die ehrwürdigen Kursbuch-Autoren meiden natürlich den Superlativ, variieren die Metaphorik aber nur minimal: „hektisch“ sei Berlin, „laut, spannend, dreckig“ und bestimmt durch das „Gesetz der Übergangszeit“. Selbst die einzige junge Autorin des Heftes, Stefanie Flamm von der FAZ, wundert sich zwar über die ständige Reproduktion „aller Klischees, die Berlin jemals hervorgebracht hat“, bemüht dann aber selbst eins: Es sei zwar nicht so, „dass die Zeit in Berlin wirklich schneller vergehen würde, als sagen wir, in Aachen. Aber hier kann man täglich beobachten, wie sie vergeht.“
Man kennt diese Großstadt-Diagnosen ziemlich gut – aus der Übergangszeit vom 19. ins 20. Jahrhundert. 1902 hatte der Psychologe und Nervenarzt Willy Hellpach in seinem Werk „Nervosität und Kultur“ noch fast verhalten von der „ganzen Kette kleiner und kleinster Ärgernisse und Unzuträglichkeiten“ geschrieben, die „Leben und Verkehr in der Großstadt mit sich bringen“. Neurasthenie als Zeitkrankheit und Ausdruck metropolitärer Lebensart: Die große Stadt wurde nun auch in Deutschland zum Urbild der nervösen Moderne, und es entwickelte sich eine Berlinprosa, die ihr Vokabular aus den Symptombeschreibung der Neurastheniker und Hysteriker zog.
Berlin war damals die einzige wirkliche Großstadt in Deutschland, der Schock und die Erregung ihrer Beobachter umso größer. Das kann man zum Beispiel in einem Roman wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ nachlesen – und eben auch in den kleinen Texten von Benjamin, Roth und Hessel, die nun, auf wenige Zitate reduziert, durch die Berlin-Feuilletons der 90er-Jahre geistern: Kurz vor dem Jahrtausendwechsel schaut man in Berlin wehmütig auf den letzten Jahrhundertwechsel zurück. Während der seichte Wind des Posthistoires durch die neuen und alten Quartiere der Stadt streicht, sehnen sich die Feuilletonisten in ihren Altbauwohnungen und ihren Redaktionsetagen zurück nach dem Schockerlebnis, das die Großstadt einst zu bieten hatte. Gebetsmühlenartig wiederholen sie darum die alten Formeln aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts, um das sanft entschlafene Monster Moderne noch einmal zum Leben zu erwecken. Wenigstens in Berlin.
Das gerade erschienene Kursbuch Nr. 137 ist die Abschiedsvorstellung des Berlin-Feuilletons: Noch einmal darf all das gesagt werden, was man schon immer gesagt hat: die letzten zehn Jahre und die letzten hundert Jahre. Nun kommt eine neue Zeit. Vielleicht wird das neue großstädtische Feuilleton – so wie in Stefan Welzks Beitrag über Berlin als mitteleuropäisches Manila – demnächst im Wirtschaftsteil der Zeitungen geschrieben. Vielleicht wird aber auch aus der Stadt Berlin, die wir uns hundert Jahre lang als Text vorgestellt haben, einfach nur ein großes Bilderbuch.
Darin blättern wir dann und erzählen uns gegenseitig, was wir auf den bunten Abbildungen sehen: Die „Berliner Seiten“, eine tägliche Beilage, die seit Anfang des Monats der FAZ in Berlin beiliegt, verkörpert in diesem Sinne das neue Feuilleton dieser Stadt: Neben einigen im gewohnten Stil der Zeitung gehaltenen Artikeln erscheint darin eine ausführliche Chronik Berliner Ereignisse des vergangenen Tages im journalistischen Fließtext, ein in schönste Prosa gefasster Terminkalender und ein geradezu minutiös ausgearbeiteter Veranstaltungskalender. Und in der Rubrik „Webcam“ ist dann noch jeden Tag eine Art Momentaufnahme zu lesen: „15.11 Uhr, Pariser Platz“, steht dann in der Überschrift und darunter, was am Vortag um 15.11 Uhr am Pariser Platz zu sehen war. Mehr nicht, eine Bildbeschreibung: Von Mädchen in gelben T-Shirts wird berichtet und einem Journalisten, der „eifrig in sein Blöckchen schreibt“. Vom nervösen Flimmern der Metropole spüren wir nichts mehr. Die deskriptiven Partien der „Berliner Seiten“ wirken ruhig, und ihre Autoren eint ein kindliches Staunen: „Schau, die große Stadt!“ Berlin ist zum Standbild geworden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen