■ Das Diepgen des Tages: 'Berlins Speisekarte‘
Weil es junge Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen gibt, gibt es Gaststätten mit Türstehern. Von seelisch vor sich hin schlotternden Frischlingen lässt sich gut profitieren. Ein paar von ihnen weist der Türsteher ab, andere lässt er gegen Geld hinein, und wer bezahlen darf, fühlt sich nicht geneppt, sondern erhoben. Die sind dann ganz begeistert und feiern sich und den Club mit blasierten, hochhackigen Sätzen ab: „Etwas schwierig ist es, die Türsteherpolitik im Eschloraque zu erklären.“
So kann man es lesen im tip-Sonderheft 'Berlins Speisekarte‘, einem ebenso hochtrabend auftretenden wie lieblos zusammengeschlampten Heft für Menschen, die dringend wissen müssen, in welche Lokale Prominente gehen. Und weil die lebensängstlichen Kälbchen älter werden, gibt es auch Lokale, in denen die Preise den Türsteher ersetzen. Das Exklusivitätsversprechen für die älteren Wichtigs ist nicht mehr vage szenig; den gesetzteren Trotteln geht man mit der Aussicht ans Portemonnaie, dass andere sich das nicht leisten können. Auch diese Sorte Mensch wird vom tip-Führer voll bedient. Das Beste im Heft ist die „Nil“-Reklame mit Otto Sander und den wie für sein Gesicht geschriebenen Versen von Gottfried Benn: „Die Nacht vielleicht geschla- fen, / doch vom Rasieren schon so müd' – / noch eh' ihn Post und Telefone trafen, / ist die Substanz schon wieder leer und ausgeglüht ...“ Der Rest ist PR- und Schischi-Journalismus, der in letzten Weisheiten gipfelt: „Das Auge ißt schließlich mit.“
Manche Ausgehschreiber haben auch ein moralisches Anliegen. Die Blaukreuzlerin Susann Sitzler berichtet über das Restaurant 'Matto‘ im Singsang der Vertraulichkeit: „Man hat das Gefühl, einem Niedergang, auch einem persönlichen Niedergang beizuwohnen.“ Auf so etwas kann man nur mit Herbert Wehner antworten: „Dass Sie überhaupt Gefühle haben, bezweifle ich.“
Apropos Niedergang: Einer, der das Genre der Kulinarschreiberei einmal hübsch durcheinander wirbelte, ist Knud Kohr. „Imbiß der Woche“ hieß die Kolumne in der jungen Welt, in der Kohr Mitte der 90er-Jahre bevorzugt über Gerichte des Grauens schrieb: „Schwungvoll warf er den Klumpen auf ein Stück Pappe. Dann würzte er ihn mit Sauce aus der Plastikflasche, welche bei diesem Vorgang Töne absonderte, die den Entleerungsgeräuschen eines Cholerakranken im Endstadium nicht unähnlich waren.“ Zweifellos die Wahrheit über die Currywürstler dieser Welt, doch Kohr hatte ein echtes Problem. Er soff so hart, dass man schon sagen musste: Er trank. Noch trauriger: Seitdem der Mann trocken ist, schreibt er so aufregend wie ein Kassenwart. Eine Kostprobe: „Auch ein Blick aufs Tagesprogramm lohnt sich beim Maria: Regelmäßig finden hier Konzerte statt.“ Molly Bluhm
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