Caritas und Kommerz  ■   Macht die U-Bahn zum Basar

SPD-Chef Peter Strieder hat zu kurz gedacht. Ganz naiv macht er sich für den Verkauf von Obdachlosenzeitungen in der U-Bahn stark – und merkt nicht, dass er damit die sozialen Probleme nur in den Untergrund abschiebt. Wer mit der alltäglichen Armut nicht konfrontiert werden will, fährt ohnehin nicht mit der BVG.

Die U-Bahn und die Obdachlosen – das ist eine unendliche Geschichte. Nicht nur an motz und Strassenzeitung erhitzen sich die Gemüter. Im nächsten Winter wird sich die BVG wieder rechtfertigen müssen, warum sie ihre Bahnhöfe nicht als Refugien gegen die Kälte nachts geöffnet hält. Das Verkehrsunternehmen wird sich dann wieder fragen, warum es für alles Elend dieser Welt zuständig sein soll. Wieso öffnet nicht das Abgeordnetenhaus als Wärmestube seine Pforten? Warum muss sich nicht auch ein Peter Dussmann rechtfertigen, dass er aus seinem Kulturkaufhaus keine Schlafstätte macht?

Geheuchelt wäre es auch, wollte man die motz als unverzichtbaren Lesestoff preisen und die Reden der Verkäufer als deren erfolgreichen Versuch, „mit der Öffentlichkeit über ihre Probleme zu kommunizieren“ (Strieder). Längst ist jedes Interesse am Inhalt der Blättchen erloschen. Sie sind nichts als Ablassscheine, die das als würdelos empfundene Betteln in einen gesellschaftlich akzeptierten Akt von Leistung und Gegenleistung verwandeln.

Kein Wunder also, dass sich der Erfolg oder Misserfolg der Verkäufer an den Kriterien der Leistungsgesellschaft orientiert: Die Spendenbereitschaft der meisten Fahrgäste richtet sich nach den rhetorischen Fähigkeiten der Verkäufer– obwohl sie doch eigentlich nur deshalb mit Obdachlosenzeitungen handeln, weil sie in jener Leistungsgesellschaft – aus welchem Grund auch immer – nicht mithalten können.

Eines hat Strieder also nicht bedacht: Caritas und Kommerz lassen sich hier nicht trennen. Die BVG muss ihre Bahnhöfe endlich den Gesetzen des Marktes öffnen – und das generelle Verkaufsverbot aufheben, das ja nicht nur die motz, sondern auch die taz trifft. Würde die U-Bahn zum Basar, wären Marktwirtschaft und soziales Gewissen versöhnt. Ralph Bollmann

Bericht Seite 23