■ Die Einwohner Dilis haben seit der Landung der Friedenstruppen in Osttimor wieder Mut gefasst. Sicher fühlen sich die Menschen jedoch nicht, zu frisch ist ihnen der Terror der Milizen in Erinnerung. Ihre Furcht ist nicht unbegründet. Nicht nur lauern Scharfschützen in den Hügeln. Auch den Soldaten der regulären indonesischen Armee ist der Zorn auf die Friedenstruppe anzusehen. Aus Dili Jutta Lietsch: „Wir dachten, nun ist es zu Ende“
„Wir leben!“, sagt Schwester Malini lächelnd, „ist das nicht ein Wunder?“ Der Konvent der Salesianerinnen in Dili hat den Terror der letzten Tage heil überstanden. Malini und ihre zehn Mitschwestern harrten in dem Gebäude aus, mit ihnen über hundert Frauen und Kinder, die sich zu den Nonnen geflüchtet hatten, als die proindonesischen Milizen am 4. September begannen, Osttimor aus Wut über das verlorene Referendum in Schutt und Asche zu legen.
Einmal rüttelten die Männer der Aitarak („Dorn“) Miliz am Tor des Konvents und verlangten, „alle Anhänger der Unabhängigkeit“ sollten herauskommen. „Da dachten wir, nun ist es zu Ende“, berichtet Malini, eine zierliche Frau mit Schatten unter den Augen. Einer der Männer verhörte die Kinder: „Wo sind eure Väter, eure Brüder?“ Malini erinnert sich: „Die Kinder waren vor Angst erstarrt, konnten kein Wort sagen. Und ihre Mütter standen daneben und haben ohne Tränen geweint.“ Dann geschah ein Wunder: Die Milizen verließen den Konvent, ohne ihnen etwas anzutun.
Nun herrscht wieder Hoffnung in Dili, der kleinen Hauptstadt von Osttimor. vAm Dienstag landeten die ersten Einheiten der internationalen Friedenstruppen. Sicher allerdings fühlen sich die Einwohner des Konvents noch nicht, zu frisch ist die Erinnerung an die Schüsse vor dem Haus, die erst in den letzten zwei Tagen verstummten. Die Häuser in der Nähe sind abgebrannt, auch der verlassene Konvent des Canossa-Ordens wenige hundert Meter weiter ist eine Ruine. „Wir schlafen immer noch alle gemeinsam in der großen Halle“, erzählt Malini.
Ihre Sorge ist nicht unbegründet: Die Atmosphäre in Dili ist trotz der Anwesenheit ausländischer Trupppen angespannt. Vor dem verwüsteten Grundstück des Canossa-Konvents warnt eine Gruppe von britischen Gurkha-Soldaten, die als Vorhut der internationalen Truppe in der Stadt patrouillieren: „Vorsicht, in den Hügeln hocken Scharfschützen.“
Obwohl sich die Milizen in den letzten Tagen offenbar an den Stadtrand zurückgezogen haben, bleibt die Situation unberechenbar. Vereinzelt fallen Schüsse, hie und da steigen Rauchwolken in den Himmel.
Die Wut bei den Milizen und beim indonesischen Militär über die Anwesenheit der verhassten UNO und der ausländischen Journalisten ist groß. Sie hätten Schuld daran, dass sich Osttimor nach 24 Jahren Besetzung von Indonesien losgesagt hat. Die Milizen haben angekündigt, „das Blut der Weißen“ zu trinken. Auch den Soldaten der regulären Armee Indonesiens ist der Zorn auf die ausländischen Militärs deutlich anzusehen. Mit grimmiger Miene betrachten sie vor dem Hotel Turismo und vor dem Gelände der UNO-Mission in Osttimor (Unamet), wie die rund zweitausend Gurkhas und Australier versuchen, die Kontrolle über die Insel zu erlangen.
Mit Panzerwagen dröhnen Soldaten der Friedenstruppe die Küstenstraße an der Bucht von Dili entlang, Patrouillen durchsuchen die Flüchtlingscamps am Strand und die Gebäude in der Stadt nach Waffen der Milizen. Die indonesischen Militärs ziehen sich langsam zurück, Lastwagen voller Soldaten fahren in Richtung Hafen, andere streben nach Westen zur Grenze nach Westtimor.
Die Begegnung mit Schwester Malini war für mich ein Lichtblick nach dem traurigen Wiedersehen mit Dili. Denn der ungeheure Hass, mit dem die Milizen und ihre Kumpane in der indonesischen Armee die Hauptstadt Osttimors innerhalb weniger Tage zerstört haben, ist beklemmend. Als ich im August über das UNO-Referendum berichtete, hatte ich einen liebenswürdigen, weißhaarigen Herrn getroffen: Pater Karl Albrecht. Der 70-Jährige leitete den Flüchtlingsdienst der Jesuiten, er lebte damals bereits seit Anfang der Neunzigerjahre in Osttimor.
Meinen Kollegen und mir besorgte er ein Privatzimmer bei einer Familie aus seiner Gemeinde, weil die wenigen Hotels des Ortes vom Ansturm der UNO-Mitarbeiter und Journalisten belegt waren. Er brachte uns zu seiner Bekannten, Ibu („Frau“) Rosa. Ihr kleines Haus mit der wunderbaren Terrasse, einem liebevoll gepflegten Garten, rote Bougainvillea und rosa Oleander lag einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt.
Nun ist der Tod in Dili eingekehrt, nichts ist mehr, wie es war: Pater Albrecht ist vor zehn Tagen ermordet worden. Kurz zuvor war er in die Berge gefahren, um zwei Nonnen in Sicherheit zu bringen. In der Nacht drangen Unbekannte in sein Haus ein und erschossen ihn.
Das Haus von Ibu Rosa steht noch: Doch es ist verwaist, auch die Nachbargebäude sind leer. Einige sind ausgebrannt, andere verwüstet. Außer Hundegebell ist kein Laut zu vernehmen. Rosas Haus ist völlig ausgeplündert, der Garten zerstört. Zwischen Glasscherben auf dem Fußboden liegen Schuhe, Hosen, Bücher, zerfetzte Fotoalben: die junge Rosa mit einer Gruppe von Freundinnen, ihre Hochzeit, Kinderbilder.
Aus dem Nebenhaus tritt vorsichtig eine alte Frau durch die Tür. Ich klaube die Fotos aus den Scherben und stelle sie ins Regal zurück – eine hilflose Geste. Wo sind die anderen geblieben? Die Alte zuckt die Schultern und zeigt in Richtung der Berge hinter Dili. „Vielleicht dort“, sagt sie, „oder in Dare. Oder in Atambua.“
Sie hofft, dass Rosa vor der Mörderbande fliehen konnte. Als die Bewohner Dilis aus ihren Häusern vertrieben wurden, mussten die meisten zwischen drei Zielen wählen: die Berge, die Stützpunkte der Unabhängigkeitsguerilla Falintil oder Dare, einem Ort mit einem Priesterseminar rund zehn Kilometer außerhalb von Dili.
Dort warten noch etwa zehntausend Menschen auf ein Ende des Milizenterrors. Für die osttimoresische Salesianer-Schwester Luvelia war es dennoch ein guter Tag: Ein paar Jungen, die den Weg aus dem nahen Dare zurück nach Dili wagten, brachten erste Nachricht von den Flüchtlingen: „Sie haben es alle geschafft“, sagt sie strahlend, „sie leben alle noch.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen