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Volksfront trotz gravierender Gegensätze

■ Das „Notprogramm“ der Kassenärzte ist gescheitert. Jetzt werden die nichtärztlichen Berufsverbände im „Bündnis Gesundheit 2000“ für Ärzteinteressen über den Tisch gezogen

Ein „Notprogramm“ hatte die „Kassenärztliche Bundesvereinigung“ (KBV) für alle 110.000 deutschen Kassenärzte vorgeschlagen: Bei drohender Budgetüberschreitung sollten nur noch „Notrezepte“ verschrieben werden. Dieses Panikpapier ist inzwischen vom Tisch. Immer noch sehr aktiv ist dagegen das zeitlich parallel gegründete „Bündnis Gesundheit 2000“ . Ebenfalls auf Betreiben der KBV haben sich nahezu alle Verbände aus dem Gesundheitswesen zu einem Bündnis gegen die Bonner Gesundheitspolitik zusammengeschlossen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik finden sich die Logos vom „Verband der Hebammen“ bis zur „Deutschen Krankenhausgesellschaft“ unter einem gemeinsamen Aufruf. Seine ganze Breite zeigt das Bündnis dann bei Großdemonstrationen, wenn als Hauptredner etwa die CSU-Sozialministerin Barbara Stamm (ihr Ministerium ist ebenfalls Mitglied im Bündnis), Vertreter des Marburger Bundes, der KBV und der ÖTV gemeinsam auftreten.

Es muss schon eine gewaltige Bedrohung unseres Gesundheitswesens befürchtet werden, wenn eine solche Volksfront von CSU-Politikern, Arbeitgebern, Gewerkschaften und Berufsverbänden ihre sonst gravierenden Interessenunterschiede, ja Interessengegensätze vergessen und gemeinsam auftreten. Die geballte Kraft richtet sich nicht etwa gegen einen drohenden Staatsstreich, sondern das Globalbudget im Gesundheitswesen, das ein Wachstum der Ausgaben nur noch entsprechend dem jährlichen Bruttolohnsummenzuwachs zulässt.

Gegen Seehofer und seine Vorgänger gab es eine derart breite Front nie. Immer scheiterten die Ärzteverbände am Widerstand der Öffentlichkeit und der „ärztlichen Hilfsberufe“. Wieder geht die Initiative von der Ärzteschaft aus. Nur begreifen die nichtärztlichen Verbände diesmal nicht, dass sie einmal mehr über den Tisch gezogen werden sollen.

Den Beweis dafür lieferte das „Notprogramm“ der KBV selbst. Dieses mit keinem der Bündnispartner abgesprochene Papier hatte die niedergelassenen Ärzte konkret aufgefordert, ihre Verordnungen dramatisch zurückzufahren. Auch sollten Massagen und Krankengymnastik nur noch bei akuten Erkrankungen verordnet werden. Eine Umsetzung dieser Vorgaben würde die Existenz einer großen Zahl von Heilmittelerbringern wie Masseure, Krankengymnasten und Logopäden bedrohen. Wieso sehen diese Verbände nicht, dass die Ärzte ihren Kostendruck auf sie abwälzen wollen, um selbst ungeschoren zu bleiben?

Niemand kann ernsthaft bezweifeln, dass dem Globalbudget jeder Bezug zur medizinischen oder demographischen Entwicklung fehlt. Während unter Wissenschaftlern Uneinigkeit darüber besteht, inwieweit die Gesundheitskosten durch die wachsende Lebenserwartung steigen, ist ein solches Wachstum durch den medizinischen Fortschritt unstrittig. Der zu erwartende Innovationsschub im Rahmen der Biotechnologie wird neue Behandlungsmethoden für Massenkrankheiten wie Krebs und Arthrose ermöglichen, verbunden mit neuen und noch nicht absehbaren Kosten.

Es bieten sich grundsätzlich drei Möglichkeiten, steigende Kosten im Gesundheitswesen aufzufangen: Erstens durch Erhöhung der Beiträge, zweitens durch Ausklammerung von Leistungen aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenkassen, also Rationierung, und drittens die Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven im Gesundheitswesen.

Die rot-grüne Bundesregierung geht letzteren Weg und behauptet, ohne einen Deckel auf den Gesundheitsausgaben in Form des Globalbudgets gebe es für die Anbieter im Gesundheitswesen keine Anreize, solche Reserven auszuschöpfen. Die Glaubwürdigkeit dieser Annahme wird von der KBV selbst untermauert. So hatten und haben die KV-Bezirke Hessen und Baden-Württemberg keine Probleme, das Arzneimittelbudget einzuhalten, weil sie seit Jahren das Thema Arzneimitteltherapie intensiv bearbeiten und beispielsweise auch Gespräche mit Kollegen führen, die durch besonders irrationale Verordnungsweisen auffallen. Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa 10 Prozent der niedergelassenen Ärzte für bis zu 40 Prozent der verordneten Medikamente ohne oder mit zweifelhafter Wirkung verantwortlich sind. Allein die gezielte Einflussnahme auf diese Kollegen würde Milliarden an Medikamentenausgaben einsparen.

Das „Notprogramm“ der KBV ist somit ein Ablenkungsmanöver von der eigenen Unfähigkeit, das immer noch irrationale Verordnungsverhalten eines Teils der Ärzteschaft in den Griff zu bekommen. Es muss verhindert werden, dass zur Durchsetzung der Interessen einer besonders mächtigen Berufsgruppe die Axt an die sozialen Wurzeln unseres Gesundheitswesens gelegt wird. Der Regierungsentwurf Reform 2000 ist bei weitem nicht der Weisheit letzter Schuss. Es gibt aber zum Dialog mit der Politik keine vernünftige Alternative, es sei denn, man strebt das Ende der solidarisch finanzierten Absicherung des gesundheitlichen Risikos der Mehrheit der Bevölkerung an. Winfried Beck ‚/B‘Der Autor ist Vorsitzender des „Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte“

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