: Erdbebenhilfe als Trojanisches Pferd
■ Auch die „Erdbebendiplomatie“ zwischen Peking und Taipeh kann das starke gegenseitige Misstrauen nicht überwinden
Taichung (taz) – Vier Tage nach dem verheerenden Erdbeben in Taiwan haben gestern Rettungsmannschaften aus Südkorea und Japan einen sechsjährigen Jungen lebend geborgen. Die Helfer gruben den Jungen mit bloßen Händen aus den Trümmern eines eingestürzten Wohnhauses, in dem noch seine Eltern und zwei Schwestern vermutet werden.
Laut jüngster Opferbilanz starben bei dem Beben 2.146 Menschen, über 8.000 wurden verletzt, knapp 400 werden noch vermisst. Verstöße gegen Bauvorschriften sollen zum Einsturz mehrerer Häuser geführt haben. Erste Verantwortliche wurden verhaftet.
In Taipeh warf ein Politiker gestern der Regierung der Volksrepublik China vor, das Erdbeben auszunutzen, um ihren Anspruch auf Taiwan zu unterstreichen. „Das hilft einem echten Dialog über die Taiwan-Straße nicht“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Rates für Festlandsangelegenheiten, Sheu Ke-shen. Schon kurz nach dem Erdbeben hatte die Führung in Peking den Opfern ihr Beileid ausgesprochen und erstmals seit der Trennung der beiden Staaten 1949 die Hilfe der Volksrepublik angeboten.
Der Vorsitzende des taiwanischen Rates für Festlandsangelegenheiten, Sun Chi, bedankte sich zunächst sorgfältig mit abgewägten Worten: „Es könnte der Beginn für verbesserte Beziehungen werden.“ Als Ausgangslage für den Aufbau von friedlichen und beständigen Kontakten sei die Geste willkommen, fügte Sun hinzu. Denn seit dem 9. Juli, als Präsident Lee Teng-hui die Beziehungen zur Volksrepublik erstmalig als „zwischenstaatlich“ charakterisiert hatte, drohte Peking dem Inselstaat immer wieder mit Gewalt, falls er die Unabhängigkeit anstrebe. Für Peking ist Taiwan eine abtrünnige Provinz.
Taiwan, dem nach der Katastrophe seine internationale Isolation wieder schmerzlich bewusst wurde, sieht Pekings Angebot als zweischneidiges Schwert. Es überwog die Furcht vor unakzeptablen Bedingungen. Deshalb entschied sich Taipeh für einen Mittelweg. Die Hilfe des chinesischen Roten Kreuzes von 100.000 US-Dollar in bar wurde dankend entgegengenommen, doch die 60.000 Dollar in Sachleistungen eines Ärzteteams aus der Volksrepublik abgelehnt.
Am meisten irritiert die Taiwaner, dass die Pekinger Führung sich bei anderen Regierungen für die Hilfsangebote an die „abtrünnige Provinz“ bedankt hat. Hilfskorps aus europäischen Ländern, die jetzt in Taiwan mithelfen, wussten teilweise nicht, an welche offizielle taiwanische Stelle sie sich im eigenen Land wenden sollten. In Europa erkennen nur der Vatikan und Makedonien Taiwan diplomatisch an, während alle anderen Staaten Pekings Hoheitsanspruch über Taiwan anerkennen. So verzögerte sich die Abreise eines russischen Hilfstrupps um 12 Stunden, weil erst die Einwilligung Pekings eingeholt werden musste. Auch die UNO holte sich Pekings Zustimmung, bevor sie überhaupt Hilfe anbot. Doch bisher hat Peking noch nicht über UN-Hilfsangebote entschieden, was die Aufrichtigkeit von Chinas Hilfsangebot in Frage stellt.
Die Bevölkerung rund um Taichung, wo das Beben die schlimmsten Zerstörungen anrichtete, heißt jede Hilfe willkommen, auch chinesische. Schließlich müssen sich Familienangehörige traditionell beistehen, auch wenn sie im Zwist leben. In Tungshi, einer der am schwersten betroffenen Kleinstädte, bieten die Menschen trotz der Not auch Außenstehenden unaufgefordert Speis und Trank an. Hu Wenli, der mit anderen Freiwilligen über 2.800 Obdachlose im taoistischen Tempel Tungshan versorgt, ist als Geschäftsmann schon oft nach China gereist. Er meint, ein kleiner Beitrag aus Peking sei wohl gerechtfertigt, wenn man bedenke, dass Taiwan mehr als 30 Milliarden Dollar auf dem Festland investiert und sich damit am wirtschaftlichen Aufbau des Landes beteiligt habe. André Kunz
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