Hereinspaziert ins Irrenhaus

■ Meret Becker & Band zeigten am Goetheplatz, wie amüsant man Alpträume inszenieren kann

Die Bühne ein dunkler Schlund, daraus sich Klänge fortbewegen. Ein Dreivierteltakt schält sich mühsam heraus, verebbt wieder. Von irgendwoher Ächzen, Stöhnen, Atmen. Daraus wird Stimme, schließlich bruchstückhafter Text. „Vive la Trance“ ist das grandiose Intro dieses etwas anderen Chansonabends betitelt. Es wird gebeten, näher zu treten. Was Sie jetzt sehen: Ein Abgrund.

Nach zehn Minuten lichtet sich das Dunkel. Nicht ganz. Meret Becker, Chanteuse des heutigen Abends, schleicht ans Mikrofon. Mit ihren halblangen Haaren, dem engen, beigefarbenen Rock bis übers Knie, wirkt das ein wenig, als hätte man die junge Musikalienhändlerin, die Becker (als einziger Lichtblick) in Vilsmaiers „Comedian Harmonists“-Verfilmung gespielt hat, mit einem kräftigen Schubs an den vorderen Bühnenrand befördert. Sie wirkt unsicher, doch sie scheint gut aufgelegt zu sein. Und sie singt ein Lied über 'Kindfrauen'. Daher weht der Wind. Das Händeringen, das Trippeln von einem Fuß auf den anderen sind Pose, gedacht als Ergänzung zum Text. Der ist eine Art Remix der Klischees, mit denen in Wedekinds „Lulu“ und Nabokovs „Lolita“ um sich geschlagen wird. Unterstützt von der simplen Melodie aus Keyboard-Flötentönen bekommt das alles plötzlich Sinn.

„Es ist so geil, hier in Bremen zu sein“, sagt Meret Becker im Anschluss, denn die halbe Besetzung stamme von hier. Leider legt sie das Kleinmädchen-Image auch dann nicht ab, wenn es nicht mehr so richtig passt. Ihre Stimme erzählt etwas anderes. Die ist nämlich mit erstaunlichem Klangumfang, mit breiten Ausdrucksmöglichkeiten gesegnet. Und viel prägnanter als Beckers Pseudo-Unsicherheit ahnen lässt.

Verantwortlich für die Inszenierung zeichnet Ulrike Haage, wie Beckers Lebensgefährte und Gitarrist Alexander Hacke vormals Teil jener Berliner Szene, der Anfang der 80er Jahre die Einstürzenden Neubauten entsprangen. Die haben sich vom Underground weg- und auf Theaterbühnen und Hörspielstudios zubewegt. Was dem „Nachtmahr“-Programm zur Ehre gereicht. Denn die schrägen, meist leisen Arrangements ragen turmhoch aus der derzeitigen Chansonlangeweile hervor. Die Stücke haben Zeit, sich zu entwickeln, sind eher Soundscapes mit Gesang als Songs. In diesem Klangraum changiert Beckers Stimme ein- und ausdrucksvoll zwischen Singen und Sprechen. Die volksliedhaft-abgedroschene „Loreley“ Heines erstrahlt so in neuem, dunklem, romantischen Glanz.

Greifbar ist der Performancecharakter des Abends bei „Geistgestört“, das Passagen aus Texten Lewis Carrolls enthält. „Bin ich dieselbe, die ich zu sein glaubte, als ich heute morgen aufgestanden bin?“; fragt Meret-Alice. Hacke schlägt dazu mit einem Bogen einen autistischen Rhythmus in die Luft, und Akkordeonspieler Peter Haas verkriecht sich unter seinem Instrument, um es schließlich zwischen den Beinen pendeln zu lassen. Als Becker mit den Worten „Hereinspaziert ins Irrenhaus“ ihren Vortrag beginnt, fragt man sich, ob es einen täglichen Wettbewerb gibt, wer in der Band wohl der Bekloppteste ist.

Irgendwann trommelt Hacke auf einem Tisch einen bezaubernden Beat. Alles sehr schön anzuschauen. Klanglich wäre der Band der Mut zu wünschen, die Regler etwas mehr aufzudrehen. Oder ein Schrei, der den wabernden Sound an der einen oder anderen Stelle aufbricht. Die Geschichten von Tod und Trennung, von „Waisen auf Besuch“ oder die Keller-Bearbeitung der „Ballade vom kleinen Meretlein“ wirken geschlossen, drohen aber manchmal in Richtung Gothic-Masche zu kippen. Wirklich peinlich allein das im Duett gesungene „Liebe ist im Bauch“. Ansonsten: Ein noctambules Vergnügen! „Träumt süß“, haucht Meret Be-cker, bevor das Licht ausgeht. Machen wir. Tim Schomacker