: LebensKunstTexte
■ Das zweite Leben in der dokumentarischen Literatur: Die Autorin Angelika Sinn
In loser Folge stellen wir Bremer AutorInnen vor. Zum Auftakt ein Porträt der Schriftstellerin und Journalistin Angelika Sinn.
Wir sitzen in einem alten Findorffer Reihenhaus. Alles ist bunt. Eine rote Wand; eine Schiebetür mit Kindergraffito trennt Wohnzimmer und Küche. Sie steht offen.
Offenheit, denke ich mehrmals während des Gesprächs mit Angelika Sinn, ist ein Leitmotiv ihrer Arbeit. Das klingt genauso blöd wie Lebenskunst oder Toleranz. Wenn man's aber einfach lebt, scheint's trotzdem zu funktionieren. Sinns Arbeit durchzieht ein Dauerton, der des politischen.
Angelika Sinn, Jahrgang 1961, war in ihrem ersten Leben Sozialpädagogin und fing erst spät zu schreiben an. Einige Jahre Jugendkulturarbeit in Frankfurt haben Spuren hinterlassen. Zu sich gekommen sei sie erst, als sie Kulturwissenschaften studierte und begann, als Journalistin zu arbeiten. Daneben immer wieder literarische Texte. Zunächst als Übungen für die Schublade. Wir lächeln, als wir merken, dass sie noch nichts veröffentlicht hat, was im herkömmlichen Sinne als ,Literatur' gilt.
Später spricht sie von ihrem Selbstverständnis als Autorin, davon, dass Portraits, die sie schreibt, Geschichten sind wie andere auch. Allein der fiktionale Anteil sei anders gelagert. „Es macht mir Spaß, Eindrücke zu sammeln, mit Leuten zu reden. Man liest ja immer, dass Schriftsteller viel im stillen Kämmerlein sitzen. Das kann ich mir nicht vorstellen.“
Entsprechend ist ihr das Spiel mit der Form nie Selbstzweck. Wenn man das Bändchen „Ich habe nie als Mensch gezählt!“ liest, merkt man sofort, was sie meint. Die „Überlebensgeschichten von Jugendlichen“, die Sinn aufschreibt, sind gebaut wie ein Erzählzyklus. Das habe natürlich auch damit zu tun, die Lesenden bei der Stange zu halten. Vor allem aber habe sie versucht, denen gerecht zu werden, die sie interviewt hat. Ein Kunstgriff, das Material aus einer Vielzahl von Gesprächen immerhin gut 500 Seiten zu einem zugleich realen und fiktionalen Text zu machen.
„Ich habe nie als Mensch gezählt!“ – Fragen nach Mensch-Sein, nach den Bedingungen von Biographien stehen im Mittelpunkt. So wie in ihrem neuen Romanvorhaben, der fiktiven Biografie der Künstlerin Paula Becker-Modersohn. Oder aber eben in jenem 500-Seiten-Buch, für das Angelika Sinn 1998 eines der beiden Bremer Literaturstipendien erhielt. Eine glückliche Kindheit? Die fünf jungen Menschen, deren bisherige Lebensgeschichten Angelika Sinn darin nachzeichnet, haben so etwas bestimmt nicht gehabt.
Dieses letzte Buch war eine Auftragsarbeit des Bremer Zentrums für Jugend- und Erwachsenenhilfe e.V. KRIZ. Was also bedeutet ihr die Stadt? „Ich fühle mich hier sehr angebunden“, sagt Sinn. Da ist die Familie, die Arbeit als Chefredakteurin des Kulturmagazins „Zett“. Da sind Kontakte und Freundschaften.
Ein roter Faden, der sich durchs Gespräch zieht wie durch Sinns Texte, ist der Mix aus privaten Idealen und Utopien. Darum Lebensgeschichten, die durch ihr Anderssein ganz unaufgeregt gesellschaftliche Strukturen in Frage stellen. „Ich glaube, dass es hier immer enger wird“, sagt Angelika Sinn fast resigniert. Und benennt zielsicher das deutsche Lieblingsmissverständnis. Dass nämlich mit dem ,Ende der Geschichte' jede nichtkapitalistische Denkungsart gleich mit auf den Müllhaufen befördert wurde. Vielleicht ist die Beharrlichkeit, mit der Sinn anderes Leben herausstellt, so unscheinbar es im Einzelnen auch sein mag, der letzte verbleibende Hoffnungsschimmer.
Das Schreiben, sagt sie gegen Ende, sei darum ihre Tätigkeit, weil sie so vieles miteinander vereinbaren könne. „Und: Es hört nie auf. Das kann man machen, bis man tot ist!“ Tim Schomacker
Foto: Michael Jungblut
Angelika Sinn stellt morgen, 30. September, 20 Uhr, im Ambiente ihr Buch „Ich habe nie als Mensch gezählt!“ (Donat Verlag, 1999, 19,80 Mark) vor
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