Die Nacht der langen Knüppel in Dedinje

Erstmals geht Serbiens Polizei gewaltsam gegen Demonstranten vor, die zur Residenz von Slobodan Milosevic ziehen wollen. Der brutale Einsatz könnte Unentschlossene aus ihrer Apathie wecken  ■   Aus Belgrad Andrej Ivanji

Es war wieder eine Nacht der „langen Knüppel“ in Belgrad. Etwa 20.000 Demonstranten, allen voran die Führer der „Allianz für den Wandel“, wollten am Mittwoch, dem neunten Protesttag zur Residenz des verhassten jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševic ziehen. „Slobodan, wir kommen dich holen!“, schrien die Menschen.

Doch vor dem durch Nato-Bomben zerstörten Gebäude des Verteidigungsministeriums in der Kneza-Milosa-Straße hielt eine Sondereinheit der Polizei, ausgerüstet mit Schlagstöcken, Schilden und Helmen, die Kolonne an. „Geht doch ins Kosovo!“, riefen ihnen verärgerte Bürger zu, verhielten sich aber friedlich. Dann geschah es. Drei mit Wasserwerfern ausgestattete, vergitterte Fahrzeuge, drei gepanzerte Kampfwagen mit Maschinengewehren fuhren auf, und die Polizisten schlugen aus zwei Richtungen auf die Demonstranten ein. Jeder, der ihnen im Wege stand, wurde verprügelt, egal ob Frauen, ältere Menschen oder normale Passanten. Die meisten Bürger liefen weg, nur wenige Jugendliche warfen Steine auf die Polizisten und durchbrachen mit Mülltonnen den Kordon. Dutzende Zivilisten und einige Polizisten wurden verletzt. Ein paar Journalisten wurden von der Polizei zusammengeschlagen, mehrere Kameras zerstört.

In der Nacht wurden dreizehn Funktionäre der Allianz vor ihrem Parteisitz festgenommen und erhielten nebenbei noch eine Tracht Prügel. „In diesem Land werden keine Gesetze und nationale Interessen, wird nicht die Verfassung verteidigt, sondern nur das Schlafzimmer des Diktators und seiner Frau!“, donnerte Zoran Djindjic, Chef der Demokratischen Partei, nachdem sich die Bürger wieder auf dem Platz der Republik versammelt hatten. Man werde sich nicht einschüchtern lassen. Dies sei erst die erste Schlacht.

Am Donnerstag werde die Allianz wieder den „verbotenen Berg Dedinje“ anpeilen. „Im Stadtzentrum konnten wir die Straßen blockieren, Lärm machen. Aber als es um die Nachtruhe Miloševic' ging, hat uns die Polizei niedergeschlagen!“, sagte ein Student. Und das sei gut so, denn er habe keine Lust mehr, jede Nacht planlos Djindjic durch die Straßen Belgrads zu folgen, jetzt würde es endlich Aktion geben.

Es scheint, dass das serbische Regime hat die Nerven verloren hat. Das gibt der Allianz Auftrieb. Die schwach besuchten, ziellosen Protestmärsche haben plötzlich eine neue Dimension bekommen, die Demonstranten ein konkretes, wenn auch symbolisches, Ziel vor Augen: Dedinje.

Das Regime kann nach der brutalen Intervention der Polizei nicht mehr zurück. Wenn die Demonstranten vor Miloševic' Wohnsitz kommen, wäre das ein Zeichen der Schwäche, das viele ermutigen würde, sich den Straßenprotesten anzuschließen. Wenn Djindjic nachließe, würden ihm seine Anhänger Feigheit vorwerfen.

Die „Schlacht um den verbotenen Berg“ kann man dieser Tage in Belgrad erwarten. Auf den Straßen der jugoslawischen Hauptstadt ist eine dohende Energie zu spüren. Ein Funken, einige Verletzte, einige schamlose Verhaftungen haben gereicht, um der allgemeinen Apathie ein Ende zu machen. „Wenn ein Regime keine anderen Argumente hat, greift es zur Gewalt“, erklärte Vuk Obradovic, Vorsitzender der „Sozialdemokratie“. Doch keine Gewalt könne den Ansturm des unzufriedenen Volkes aufhalten. Die Oppostion hat gestern einen Runden Tisch organisiert. Dort wollen alle relevanten Parteien versuchen, sich auf ein Minimum gemeinsamer Interessen zu einigen und die Protestaktionen zu koordinieren. Der einflussreiche Belgrader Fernsehsender „Studio B“, den Vuk Draškovic kontrolliert und der bisher die Demonstrationen meist ignorierte, änderte über Nacht seine Politik: Er berichtete ausführlich über die jüngste Demonstration und die brutale Intervention der Polizei.