: Europäer neuen Typs
Marcin Krzymuski ist einer von 1.088 polnischen Studenten an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder. Seine Berufsperspektiven sind glänzend: Wer einen Hochschulabschluss der deutsch-polnischen Europa-Universität vorweisen kann, ist für die neuen europäischen Märkte bestens gerüstet. Denn die Zukunft, so ist man sich an der Frankfurter Hochschule sicher, liegt im Osten Von Bernd Dörries
Für Marcin Krzymuski beginnt der Tag mit einem Gang über die Grenze. Von seiner Wohnung im Studentendorf von Slubice geht er ein paar Schritte in Richtung Oder. Vorbei an Obdachlosen, die ihre Schalen für den Geldeinwurf unterteilt haben, rechts Sloty, links D-Mark. Marcin biegt rechts ab auf die Stadtbrücke. Links unter ihm die polnischen Angler auf den Kiesbänken. Weiter hinten, am deutschen Flussufer, werden Kräne eingesetzt, um die Betonmauern zu erhöhen. Am Ende der Brücke hat sich eine kleine Schlange gebildet. Polen und Deutsche warten auf die Abfertigung am Grenzposten.
Marcin muss nicht warten. Als Student der Europa-Universität genießt er bevorzugten Durchlass. Auch sonst ist Marcin kein Pole wie die anderen in Slubice, einer armen Stadt mit 17.000 Einwohnern. Er gehört zu dem Drittel polnischer Studenten an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). „Die Uni hat einen sehr guten Ruf in Polen“, sagt er. Auf einen der quotierten Studienplätze für Polen kommen drei Bewerber. Ein hartes Auswahlverfahren hat er durchlaufen. Nun kann er sich zu einer neuen polnischen Elite zählen, die nach dem Studium mit hoher Wahrscheinlichkeit Spitzenpositionen in Wirtschaft und Politik besetzen wird.
Marcin hat deutschen Boden unter den Füßen; vorbei an den Streifen des Bundesgrenzschutzes sind es fünf Minuten zum Hauptgebäude der Viadrina. Der Weg führt durch graue Straßen mit flachen Betonbauten; klassische Platte in Variationen. Nur hier und da ein Neubau. Ein Gitterzaun umgibt die Viadrina, die „an der Oder Gelegene“. Das Hauptgebäude ist ehrwürdig barock. Früher residierte hier die Frankfurter SED. Im Innern ist alles modern und edel restauriert.
Seit 1991 hat Frankfurt (Oder) wieder eine Universität. Von 1506 bis 1811 studierten hier berühmte Zeitgenossen: die Gebrüder Humboldt, Heinrich von Kleist und Thomas Müntzer. Danach war erst einmal Schluss. Heute gilt Axel Schulz, der Boxer, als berühmtester Sohn der Stadt. Schon zu Zeiten der alten Viadrina kamen viele Polen zum Studieren. An diese Tradition wollte man bei der Neugründung anknüpfen. Einen europäischen Charakter sollte die Uni bekommen. „Es wäre aber sinnlos gewesen, eine Hochschule zu gründen, die auf Brüssel schaut. Uns ist es darauf angekommen, eine Uni für das Europa von morgen zu schaffen“, sagt der scheidende Rektor, Hans Weiler. Denn die Zukunft liege im Osten. Dafür ist man mit der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan eine enge Kooperation eingegangen.
Auf der polnischen Seite gibt es mit dem Collegium Polonicum einen gemeinsamen Campus. Das „totale Experiment“ der deutsch-polnischen Zusammenarbeit habe sich in eine „wahnsinnige Erfolgsgeschichte verwandelt“, sagt Krzysztof Wojciechowski, der Verwaltungsdirektor des Collegiums. „Dieser Standort ist ein Sprung ins 21. Jahrhundert, wir schaffen hier einen neuen Typ des Europäers.“ An der Viadrina gibt es drei Fakultäten: Jura, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften, jeweils mit besondem Augenmerk auf Osteuropa. Interdisziplinarität lautet hier das Zauberwort. BWLer sitzen in einem Seminar zur Geschichte und Gesellschaft in Polen, Kulturwissenschaftler pauken die Grundzüge der Volkswirtschaft. Vereint widmen sich die Fakultäten am Institut für Transformationsstudien den gesellschaftlichen Umwälzungen in den östlichen Staaten.
Es ist Mittag. Im Vorhof des Hauptgebäudes sitzen Grüppchen bei Kaffee und Zigaretten. Brocken von Polnisch und Deutsch sind zu hören. Marcin gönnt sich mit Asia Guttzeit eine Pause. Beide studieren Jura im achten Semester, ihr deutsches Staatsexamen haben sie in der Tasche, jetzt ist das polnische an der Reihe. In den Semesterferien machen sie Praktika, Marcin war zuletzt bei Daimler in Stuttgart.
Neben den 1.088 Polen gibt es noch 1.700 deutsche Hochschüler sowie 136 weitere internationale Studenten aus 34 Ländern. Deutsche Juristen und BWLer, die über die Zentrale Studienplatzvergabe (ZVS) an die Viadrina verschickt wurden, sogenannte ZVS-Opfer, sind selten geworden. „Das Renommee ist aktenkundig“, sagt Rektor Hans Weiler und verweist auf die jüngsten Hochschulrankings, bei denen die Viadrina die vorderen Plätze eingenommen hat. Der gute Ruf der Uni wurde jedoch häufig von negativen Schlagzeilen überlagert: Überfälle auf ausländische Studenten und Dozenten gingen durch die Medien.
Die Uni mit dem europäischen Touch ist ein bisschen wie ein Ufo in einer Stadt gelandet, die von Arbeitslosigkeit und Zukunftsängsten geplagt ist. Auch die deutschen und polnischen Studenten wollten anfangs nicht so recht zueinander finden. „Viele Studenten müssen erst von außen dazu bewegt werden, sich näherzukommen“, sagt Sandro Jasker, der sich im Verein „Spotkanie“, polnisch für „Begegnung“, engagiert. Spotkanie will den Kontakt zwischen Deutschen und Polen intensivieren und stellt im Studentenparlament seit Jahren die Mehrheit.
Ramona Blume und ihre polnische Freundin Anna Przybylska haben sich ohne fremde Hilfe kennengelernt. „Es kommt halt darauf an, ob man kontaktfreudig ist oder nicht“, sagt Ramona. Beide studieren BWL und wohnen auf polnischer Seite im Wohnheim. Ramona kam an die Viadrina, weil sie „nicht ganz normal in Deutschland studieren wollte“. Anna wollte „Land und Leute kennenlernen“ und ist begeistert. Probleme mit Ausländerfeindlichkeit hatte sie noch nie. Die zwei möchten gern später bei einem deutschen Unternehmen in Polen arbeiten. Die Chancen dafür stehen gut.
Von den Zukunftsängsten und Unsicherheiten der Studierenden an anderen deutschen Unis ist hier wenig zu spüren. „Wir können gar nicht genug Absolventen produzieren, so groß ist die Nachfrage“, sagt Dr. Edda Böhme, die für die Absolventen- und Praktikabetreuung zuständig ist. Aus ihrer Schublade holt sie einen Stapel mit Stellenangeboten von Unternehmen hervor: „Und das sind nur die von dieser Woche.“ Der Bezug zu Osteuropa und die kurzen Studienzeiten mache die Jungakademiker für die Wirtschaft enorm attraktiv. Kaum einer brauche länger als die Regelstudienzeit. Viel Ablenkung wird allerdings auch nicht geboten in Frankfurt. Studentisches Leben, eine Kneipenkultur sucht man im Umfeld der Uni vergeblich. Wer Nachtleben braucht, muss schon die achtzig Kilometer nach Berlin fahren.
In Slubice hat sich durch die Nähe der Studentenwohnheime ein kleiner Campus gebildet. Auch einen Pub gibt es dort, in dem Marcin abends öfter bei einem Bier abschaltet. Gleich daneben steht das Collegium Polonicum. Gestartet ist das Collegium 1992 mit der Juristenausbildung in einer kleinen Baracke. Mittlerweile steht dort, wo sich vor ein paar Jahren noch eine Bierbude befand, das neue Hauptgebäude. Das Bild vom Ufo trifft hier auch rein äußerlich zu. Der Flachbau gibt sich alle Mühe, möglichst modern zu wirken, die Gänge sind kahl und in Badezimmerfarben getaucht.
Beim Verwaltungsdirektor des Collegiums, Krzysztof Wojciechowski, ist es wohnlicher. Er selbst wirbelt rastlos umher. Sein Terminkalender ist übervoll, er lebt für die deutsch-polnische Idee. Am Anfang, bestätigt Wojciechowski die Berichte seiner deutschen Kollegen, habe es Probleme gegeben. Die örtlichen „Platzhirsche“, wie er die heimischen Jugendlichen nennt, hätten die Neuankömmlinge nicht akzeptiert, es sei zu Rangeleien gekommen. Heute sei es besser, der Kontakt zur Bevölkerung nimmt zu.
Polnische Studierende seien an einem fundierten Studium interessiert, deutsche eher an Zusatzqualifikationen, sagt Wojciechowski. Für deutsche Juristen gibt es einen Magisterabschluss in polnischem Recht, für Wirtschaftler ein MBA-Programm mit Schwerpunkt Marketing und Managemant in Osteuropa. Mit neuen Studiengängen wie dem „Schutz europäischer Kulturgüter, Moderne Stadtentwicklung und Vergleichende Mitteleuropastudien“ will das Collegium eine Art Think-Tank für Osteuropafragen etablieren und Kundschaft vor allem aus Deutschland und dem Ausland anlocken.
Marcins Tag geht dem Ende zu. Er macht sich auf den Heimweg Richtung Oder. Die Barrieren im Kopf seien überwunden, sagt Marcin. „Wäre ich nicht hierher gekommen, hätte ich sicher ein wenig Angst vor dem großen Deutschland und dem neuen Europa.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen