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■ H.G. HolleinSekundenzähler

Die Zeit, die ich durcheile, ist knapp bemessen. Ich trachte danach, das zu ändern. Nun ist Zeit – wie wir ja alle wissen – ein Artikel, den der Große Distributor leider ohne Ansehen der Bedürftigkeit zuteilt. Gegen einen derartig stumpfsinnigen Egalitarismus hilft einzig der gezielte Diebstahl. Klauen läßt sich natürlich nur, was andere haben, aber ergiebige Tatorte sind ja genug vorhanden. An Registrierkassen etwa weiß ich trefflich, anderer Leute Zeit zu stehlen, indem ich sorgsam im Portemonnaie nach Kleingeld wühle, nur um dann bedauernd festzustellen, dass ich es wohl doch nicht passend habe. Multipliziert man die auflaufenden Sekunden mit der Anzahl der Wartenden, kommen da schnell ein paar Minuten zusammen. Am Wurststand bin ich dazu übergegangen, möglichst wenige Scheiben von möglichst vielen Sorten auszuwählen, natürlich nicht, ohne mir vorher in aller Ausführlichkeit Geschmack und Herkunft erläutern zu lassen. Auch der scheibenweise Brotverkauf bietet sich dem gewitzten Zeitdieb in geradezu idealer Weise an. Wenn mich aus den Schlangen hinter mir die Vibrationen kaum noch beherrschbaren Unmuts erreichen, saugt sich mein Lebenszeitschwamm so richtig voll. Und selbst der Autoverkehr ist – im Gegensatz zum üblichen Vorurteil – ein Quell lebensverlängernder Optionen. An Ampeln warte ich stets bis grün, bevor ich – gemächlich – den ersten Gang einlege. Vor allem an Kreuzungen mit kurzer Grünphase lässt bei der herrschenden Verkehrsdichte schon ein geringfügiges Zögern mein Lebenszeitkonto jedesmal um Stunden emporschnellen. Ein bisher ungelöstes Problem ist allerdings die erbitterte Konkurrenz auf diesem Feld. Tag für Tag stehen vor mir Idioten ohne Zahl.

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