: Im Dunkeln mit Infrarot
■ Tag und Nacht beobachtet die holländische Spielshow „Big Brother“ neun Menschen. Nun stieg eine Kandidatin freiwillig aus
Der unansehnliche Containerbau ist von einer hohen Sichtblende umgeben. Größere Ausblicke sind nicht möglich, intime Einblicke hingegen schon: 24 Kameras, darunter zwei Infrarotgeräte, verfolgen rund um die Uhr, was in den Wohnräumen und im angrenzenden, nach Einbruch der Dunkelheit unter einem Flutlichtflor liegenden Garten vonstatten geht.
Die an ein Straflager erinnernde Szenerie ist die Kulisse von „Big Brother“ – einer „Reality-Soap“, die seit dem 16. September vom kommerziellen niederländischen TV-Sender Veronica (Eigenwerbung „The Young One“), werktäglich ausgestrahlt wird. 3.000 Kandidatinnen und Kandidaten hatten sich beworben, fünf Männer und vier Frauen zwischen 20 und 44 Jahren wurden ausgewählt. Insgesamt 100 Tage sollen sie in den von der Außenwelt abgeschnittenen Räumlichkeiten verbringen, sich einschließlich Gemüseernte und Brotbacken selbst verpflegen, den Haushalt organisieren, vor allem aber auftretende Konflikte einvernehmlich bewältigen – und sich dabei pausenlos von den TV-Kameras beobachten lassen.
Verträgliches Verhalten ist nämlich zwingende Voraussetzung, um das im lichten Ikea-Stil eingerichtete freiwillige Gefängnis nicht vorzeitig verlassen zu müssen. Von Zeit zu Zeit wählen die Wohngenossen anonym zwei Kandidaten, die das TV-Idyll verlassen sollen. Wen es trifft, bestimmen die Zuschauer. Die letzten drei Mitwirkenden machen unter sich aus, wem die auf 250.000 Gulden (ca. 220.000 Mark) dotierte Siegesprämie zuerkannt wird. Dasoll es dann vorbei sein mit dem Burgfrieden – eine Drittelung oder anderweitige Teilung des Betrages ist ausgeschlossen.
In der dritten Woche der dreimonatigen Bewährungsphase hatten bereits zwei Mitwirkende die Gemeinschaft verlassen. Der Klimaanlagenbauer Martin war von den Zuschauern seines stillen Naturells wegen abgewählt worden. Die Schuhverkäuferin Tara verließ die kleine Kommune aus eigenem Antrieb. In einer via Internet verbreiteten Stellungnahme beklagte sie die zwanghafte Harmonie in den beengten Räumlichkeiten. Zudem litt sie, wie die niederländische Presse meldet, unter Heimweh. An ihrer Stelle zog Ersatzkandidatin Mona in das Haus.
Für das außergewöhnliche Fernsehprojekt wurde auf dem Gelände einer Filmproduktionsfirma in Almere ein eigens entworfenes Gebäude errichtet. Die Aufenthalts- und Schlafräume gruppieren sich um einen begehbaren Kern, von dem aus Kameraleute das Geschehen in den Wohnbereichen durch Einwegspiegel aufnehmen können. Außerdem befinden sich in allen Räumen stationäre Kameras, die der Regie Bilder zuliefern. „Nur im Kühlschrank“, witzelte Moderator Rolf Wouters in der Auftaktsendung, sei man vor den Kameras sicher.
Freilich haben die Produzenten anderes im Sinn als eine Rund-um-die-Uhr-Übertragung, die den Film „Die Truman-Show“ Realität werden ließe, aber mangels dramatischer Höhepunkte von den Zuschauern kaum goutiert würde. Vielmehr wird der Bildfluss täglich zu einem halbstündigen kommentierten Bericht über die aktuellen Entwicklungen innerhalb der kleinen Wohngemeinschaft zusammengefasst. Donnerstags gibt es eine Sondersendung mit Interviews und Hintergrundberichten, samstags einen Wochenrückblick. Darauf, welche Szenen ausgewählt werden, haben die Protagonisten selbst keinen Einfluss.
Bereits im Vorfeld wurde „Big Brother“ in den niederländischen Medien heftig diskutiert, insbesondere mit Hinblick auf die Sendung eines skandinavischen Senders, der ein ähnliches Experiment unter allerdings ungleich widrigeren Bedingungen, nämlich auf einer menschenleeren Insel, durchgeführt hatte. Einer der Teilnehmer verübte später Selbstmord, weil er die Zurückweisung seitens der Gruppe nicht verkraftet hatte.
„Big Brother“-Produzent Paul Römer glaubt, solchen Entwicklungen vorgebeugt zu haben. Die Teilnehmer wurden sorgfältig ausgewählt und eingehend vorbereitet. Zudem gibt es im Haus eine von den Kameras nicht einsehbare Kabine, wo Teilnehmer in Krisenfällen anonym Rat erhalten können. Schließlich wird, wer vorzeitig ausscheidet, nicht abrupt in die Anonymität zurückgescheucht, sondern kann – und soll – in einer eigenen einstündigen Sendung über die gemachten Erfahrungen berichten. Der ausgeschiedene Martin erfreute sich bereits erheblicher Publizität und war in diversen Talkshows zu Gast. Doch auch die Zurückgebliebenen können nicht klagen – aufmerksam beobachteten die Zuschauer die sich anbahnende Romanze zwischen dem stillen Bart und der munteren Sabine, der sportliche Ruud hat bereits einen eigenen Fanclub.
Trotz aller Überwachung ist „Big Brother“ außer Kontrolle geraten. Daten-Hacker und Journalisten haben Unstimmigkeiten zwischen den von Veronica verbreiteten Meldungen und der Realität festgestellt. So stehen die Teilnehmer entgegen ihren Instruktionen wohl doch in Kontakt mit der Außenwelt. Die Männer ließen sich Fußballergebnisse zurufen, die gewitzte Kandidatin Bianca plauderte nachts, so lässt ein von Piraten ins Internet gestellter Tonbandmitschnitt vermuten, frohgemut mit einem der Kameramänner – und wurde daraufhin wohl von der Sendeleitung abgemahnt.
Ob die Hausbewohner allen Widrigkeiten zum Trotz bei Laune bleiben, gehört zu den mit dieser Sendung verbundenen spannenden Fragen. Ende Dezember soll die Siegerehrung stattfinden. Bis dahin wird „Big Brother“ wohl noch einige Male für Gesprächsstoff sorgen. Harald Keller ‚/B‘Mehr zu „Big Brother“: www.Big-Brother.nl.
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