: Er spielte den Tschernobyl-Helfern auf – verstrahlt
■ Dirigent hat keinen Anspruch auf Entschädigung durch Unfallversicherung
Hannover (taz) – „Von meinen 36 Musikern sind viele an der Verstrahlung gestorben“, sagte der 44jährige Dirigent Waldemar G., bevor gestern das Sozialgericht Hannover über seine Klage gegen die gesetzliche Unfallversicherung für Aussiedler, die Bundesausführungbehörde für Unfallversicherung, verhandelte – und zurückwies.
Bei G. traten die Symptome der Verstrahlung ein Jahr nach einem Katastropheneinsatz seines Orchesters am geborstenen Reaktor von Tschernobyl auf: Schwindelanfälle, Bluthochdruck, ständige Kopfschmerzen, Hals- und Schluckbeschwerden infolge einer Schilddrüsenerkrankung. Auto etwa traue er sich längst nicht mehr zu fahren, sagte der in der Sowjetunion als Dirigent und Akordeonspieler diplomierte, deutschstämmige Musiker.
G. war 1991 aus Minsk in Belorussland in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Weil er seinen Beruf nur noch eingeschränkt ausüben kann, hoffte er auf Finanzierung einer Rehabilitation oder einer Berufsunfähigkeitsrente nach dem Fremdrentengesetz.
Die Begründung des Vorsitzenden Richters Stefan Jungeblut für die Abweisung der Klage: Während seines Einsatzes nach der Tschernobyl-Katastrophe sei er Berufssoldat gewesen und falle deswegen nicht unter das Fremdrentengesetz.
Der Einsatz des Dirigenten und seines Orchesters in der verstrahlten Zone II um den geborstenen Reaktor begann am 26. Mai 1986, vier Wochen nach der Reaktorkatastrophe. Die Musiker wurden mit Dosimetern ausgestattet und von Minsk aus mit Bussen in das verstrahlte Gebiet gefahren. Dort spielten sie acht Tage lang vor Soldaten auf, die um oder direkt am Rekator im Einsatz waren, aber auch vor Zivilisten, die auf ihre Evakuierung warteten.
Die Werte des persönlichen Dosimeters von G. spielten in der Verhandlung nur am Rande eine Rolle. Dort ging es um die Frage, welchen Status der Aussiedler seinerzeit als Leiter der Kapelle im Katastropheneinsatz hatte. Der Prozessvertreter des Dirigenten, der Rechtsanwalt Roland Kogge, sah den Chef des Orchesters, das keineswegs nur Märsche, sondern auch Schlager und Folklore spielte, als zivilen Angestellten der Armee, der hierzulande sozialversicherungspflichtig wäre oder daher Ansprüche geltend machen könne. Das Bundessozialgericht habe einem ehemaligen DDR-Soldaten in einer ähnlichen Sache Recht gegeben, weil es eine Gesetzeslücke erkannte.
Der Vorsitzende Richter wollte die Entscheidung des Bundessozialgerichts jedoch nicht auf seinen Fall übertragen. Der Gesetzgeber habe bewusst entschieden, ehemalige Berufssoldaten, die als Aussiedler in die Bundesrepublik gekommen sind, nicht unfallzuversichern. Sie könnten bestimmte Entschädigungsansprüche direkt beim Staat geltend machen. Nur: Wenn sich ein späterer Aussiedler freiwillig als Berufssoldat verpflichte, dann „verpflichte er sich auch, an kriegerischen Handlungen gegen Nato-Staaten wie die Bundesrepublik teilzunehmen“, so der Richter wörtlich. Deswegen könne er für Unfälle in der Zeit als Berufssoldat weder von deutschen Sozialversicherungsträgern noch vom Staat Leistungen verlangen.
Jürgen Voges
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