: Keine Verhandlung ohne Frühstück
Er wollte deutsche Rechtsprechung studieren. Er bekam deutschen Rassismus zu sehen. Nun soll Soziologiestudent Stephan Snyder ins Gefängnis. Er kritisierte das Hohe Gericht – ausgerechnet im Gericht ■ Aus Darmstadt Astrid Geisler
Seit dem 25. November 1998 hat Stephan Snyder viel über den deutschen Rechtsstaat gelernt. Mehr als sein Kriminologie-Professor gewünscht hätte.
„Ich rate jedem, der eine Gerichtsverhandlung besucht, vorher kräftig zu frühstücken“, sagt Stephan Snyder. Das hatte der Sozialpädagogik-Student an jenem 25. November ausfallen lassen. Mit leerem Magen war er zum Amtsgericht am Darmstädter Mathildenplatz geradelt. Von neun bis elf hatte Professor Dieter Zimmermann seine Studenten der Evangelischen Fachhochschule in eine Verhandlung des Jugendschöffengerichts eingeladen. Nur ein kurzer Ausflug in den juristischen Alltag sollte es werden, nach Wochen kriminologischer Theorie über „Abweichendes Verhalten und formelle Sozialkontrolle“. Zum Mittagessen wollte Stephan in der Mensa sein. Er landete im Keller des Amtsgerichts. In einer Zelle. Was sich an jenem Morgen im Sitzungssaal 604 des Amtsgerichts Darmstadt abspielte, nennt Kriminologe Zimmermann ein „einschneidendes Ereignis für Stephan“. Der 27-jährige Student wird die Exkursion vermutlich fortsetzen müssen. Dort, wo auch der erste Teil des Ausflugs für ihn endete: hinter Gittern.
Stephan Snyder zieht zwei Packen gefalteter Schriftstücke mit dem Aktenzeichen 27 Ls 10 Js 23480/98 aus den Taschen seiner geflickten Jeans. Zeugnisse von zehn Monaten Gerichtsverfahren. Kein Loch zum Abheften ist mehr unversehrt, die Papiere sind aus dem Ordner gerissen: „Die Geschichte ist so absurd“, sagt er und bügelt mit den Handflächen über die Knitter. „So was kann ich nicht ernst nehmen.“
Offen, lustig, manchmal ein wenig ungeschickt, nie aggressiv. So kennen die Studienfreunde Stephan. Ein Kinderfreund mit rasiertem Schädel, der auf Partys Apfelschorle trinkt. Vor dem Studium eine Schreinerlehre, als Zivi im Behindertenkindergarten. „Stephan ist besonders sensibilisiert“, sagen die Kommilitonen. Das ist ihre Art zu umschreiben, warum der 27-Jährige nicht nach Ostdeutschland reist, warum er sich für sein gutes Deutsch manchmal loben lassen muss: Stephan Snyder hat erst zehn Jahre einen deutschen Pass. Und er ist schwarz.
In jener Verhandlung war das keine Nebensache.
Als Professor Zimmermann seine rund 20 Studenten um 11 Uhr verließ, wusste er: Die Verhandlung gegen die drei jugendlichen Angeklagten, zwei Türken und einen Deutschen, lief „sehr spannungsreich“. Mit einer Eskalation rechnete er nicht.
Ellenbogen an Ellenbogen saßen die Drittsemester der Evangelischen Fachhochschule auf dem alten Gestühl im Zuschauerraum des dunkel getäfelten Sitzungssaals 604. „Entsetzt“ seien sie gewesen, erzählt die Studentin Doreen Fritz: Wieso zweifelte der Amtsrichter, ein kleiner Herr mit weißem Haar, gleich zum Auftakt der Verhandlung das Geburtsdatum des türkischen Hauptangeklagten an, obwohl der in einem deutschen Krankenhaus geboren wurde? Hatten die anderen auch gehört, dass Staatsanwalt und Richter die volljährigen Ausländer wiederholt mit „Du“ ansprachen, wie Doreen in ihren College-Block notierte? Dass der Richter dem Angeklagten entgegnete: „Ihnen möchte ich nicht im Dunkeln begegnen.“ Dass er dem arabischen Opfer eine Ordnungsstrafe androhte, weil der Mann vor Nervosität mit dem Fuß wippte? Fiel tatsächlich das Wort „Drecksau“ und der Kommentar „Gehen Sie ins Gefängnis, da sind Sie unter Ihresgleichen“?
Die Kommilitonen bestätigen, was Doreen Fritz notierte. Nicht aber die Gerichtsprotokollantin.
In ihrem Uni-Ordner hat Doreen Fritz die gegensätzlichen Versionen der Gerichtsverhandlung abgeheftet: drei Seiten eigene Mitschrift auf Karopapier. Ein gutes Dutzend Kopien der Dienstaufsichtsbeschwerden, die die Studenten schrieben. Dahinter Schriebe der Justizbehörden. Hier kann sie nachlesen, was Richter, Staatsanwalt und Gerichtsprotokollantin zu Protokoll gaben: Niemand sei geduzt worden, keiner habe sich respektlos, diskriminierend oder beleidigend verhalten. Deshalb sah das Gerichtspräsidium „keine Anhaltspunkte dafür“, dass die Beobachtungen der Studenten „den tatsächlichen Begebenheiten“ entsprachen.
Etwas abseits von den Kommilitonen auf einem alten Holzstuhl hatte auch Stephan Snyder die Gerichtsverhandlung verfolgt. Mehr als zwei Stunden lang beobachtete er, wofür die Justizbehörden später „keine Anhaltspunkte“ sahen. Gegen Mittag hob Staatsanwalt Michael Sagebiel an zum Schlussplädoyer gegen den 18-jährigen Türken, angeklagt wegen gefährlicher Körperverletzung. Der schwarze Student hörte den Staatsanwalt zu dem jungen Ausländer sagen: „So jemanden wie Sie können wir in unserer Gesellschaft nicht gebrauchen.“ Die Studenten werden die Aussage in ihren Beschwerden als „klar ausländerfeindliche Position“ zitieren. Doch im Gerichtsprotokoll taucht sie nicht auf. Staatsanwalt Sagebiel habe die ihm „in den Mund gelegte Äußerung“ nach eigenem Bekunden „so nicht gebraucht“, ließ der Oberstaatsanwalt die Studenten später wissen. Für ihn war damit klar: Der Satz war „so nicht gefallen“. Stephan Snyder jedoch schnellte von seinem Sitz hoch. Distanzieren wollte er sich, sagt er heute, einfach den Saal verlassen.
Doch so einfach ging das nicht. Sein Stuhl knarzte auf dem alten Holzfußboden. Staatsanwalt Sagebiel unterbrach das Plädoyer. Was der Student dann sagte, als es plötzlich still war im Sitzungssaal, hat die Gerichtsprotokollantin genau festgehalten: „Ich bin mittlerweile deutscher Staatsbürger geworden, aber so eine Scheiße höre ich mir nicht mehr an.“ Die Antwort des Richters kann Stephan nicht vergessen: „Setzen Sie sich! Sie sind nicht gemeint!“, habe Kauth gerufen.
Doch Stefan Snyder setzte sich nicht. Für den schwarzen Studenten war „alles bestätigt“. Wieso sollte er „gemeint“ sein? Sprach der Staatsanwalt nicht über einen Kriminellen, der sein Opfer mit einer Pistole auf den Hinterkopf und mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen hatte? Was außer der ausländischen Erscheinung verband ihn mit diesem Typ?
Stephan Snyder hatte einen Tatbestand erfüllt: Ungebühr im Gericht, § 178 Gerichtsverfassungsgesetz. Justizbeamten führten Stephan Snyder ab, die breiten Steintreppen des barocken Gerichtsgebäudes hinunter in den Keller, öffneten eine Stahltür: Betonfußboden, blanke Kacheln, eine Pritsche. Seine Zelle, für drei Stunden.
„Der übliche Weg“, findet Michael Sagebiel. Eigentlich will der Staatsanwalt nichts sagen zu der Hauptverhandlung im vorigen November. Nur „dunkel“ entsinne er sich an die Dienstaufsichtsbeschwerden. In zwei Punkten ist die Erinnerung des Staatsanwalts jedoch klar: „Ich habe keinen Angeklagten geduzt und werde das auch nicht machen.“ Ausländerfeindlich habe er sich auch nicht geäußert. Er sei Mitbegründer eines deutsch-ausländischen Freundschaftsvereins und engagiere sich in seiner Freizeit für die Integration von Ausländern.
Auch Richter Kauth schweigt zu der Verhandlung: „Was soll ich das noch mal aufrühren?“, fragt er. Besonders kritisch seien die Studenten eben gewesen: „Sozialwissenschaften und Justiz, das reibt sich eben aneinander.“
Stephan Snyder saß mit knurrendem Magen in seiner Zelle und blätterte in Zeitungen, die er morgens noch hastig in den Rucksack gestopft hatte. Kein Wärter wusste Antwort auf seine Fragen: Warum? Wie lange noch? Was dann?
Drei Stockwerke höher ging die Verhandlung weiter, als sei nichts gewesen. Das Gericht hielt Mittagspause und sprach schließlich Recht. Ein mildes Urteil, die türkischen Straftäter hätten nichts einzuwenden gehabt, versichert die Jugendgerichtshelferin Tina Rhodus den aufgebrachten Studenten später. Sie besuchte nicht nur die Verurteilten im Gefängnis, sondern auch das Kriminologie-Seminar von Professor Zimmermann. Die Studenten schätzten ihre unabhängige Position. Aber öffentlich Stellung beziehen? Der Abteilungsleiter rät Tina Rhodus ab. Und so will sich die Jugendgerichtshelferin jetzt lieber ganz raushalten. Gute Zusammenarbeit mit dem Amtsgericht ist für ihren Job wichtig.
So würde es ausgehen, hatte die Studentin Doreen Fritz geahnt. Düstere Stimmung im Asta-Raum der Evangelischen Fachhochschule. Hier ruht das letzte Exemplar eines signalroten Protestplakats, ordentlich gefaltet in einem beigen Aktendeckel, fast wie im Gerichtsarchiv. „Du denkst, dass an deutschen Gerichten Recht gesprochen wird? Denkste!“, hatte Doreen Fritz vor Weihnachten mit Freunden getextet. Dabei war sie eigentlich nie besonders politisch. In einem Darmstädter Jugendhaus arbeitet die 21-Jährige neben dem Studium. Nach dem Gerichtsbesuch plagte sie das Gewissen: „Die ganze Verhandlung“, sagt Doreen, „war menschenunwürdig.“ Dienstaufsichtsbeschwerden – formlos, fristlos, fruchtlos. Von dem „Prinzip der 3 f“ hatten die Studenten gehört. Gar nicht frist- und fruchtlos war die Antwort des Gerichtspräsidenten. „Ein Schock in den Semesterferien“, sagt Doreen Fritz. Drei Wochen Zeit, die Vorwürfe zurückzuziehen, sonst werde Richter Kauth Anzeige erstatten. Wegen falscher Verdächtigung. Sechs Studenten machten den Rückzieher. Angezeigt hat der Richter keinen, auch nach sechs Monaten nicht. Bei Doreen Fritz und ihren Kommilitonen blieb der Verdacht: Ob Gericht oder Staatsanwaltschaft, die stecken alle unter einem Aktendeckel.
Seither hat Professor Dieter Zimmermann in seinem Hochschulbüro „intensive pädagogische Betreuung“ geleistet. Er erinnert sich noch genau, wie am 25. November abends um zehn das Telefon klingelte. Es war Stephan: „Herr Zimmermann, ich hab' vier Tage!“
Vier Tage Ordnungshaft. Mit diesem Urteil hatte Richter Kauth den Studenten nach drei Stunden in der Zelle vorerst heimgeschickt. Dieter Zimmermann möchte Stephan diese letzte Lektion der Staatsbürgerkunde ersparen: Schon beim ersten Telefonat habe der Student seine „unbedarfte Äußerung“ bereut. Und sei die Justiz nicht überlastet, die Gefängnisse überfüllt? Die Beschwerde gegen die Ordnungshaft habe Stephan nach seiner Sprechstunde selbst verfasst. Stolz sagt der Pädagoge: „Das hat der Stephan sehr schön gemacht.“ Nicht schön genug für das Oberlandesgericht Frankfurt. Es hat das Strafmaß nur halbiert: Zwei Tage oder 500 Mark, plus Verfahrenskosten. Die Entschuldigungen seien „wertlos“, steht in der Begründung. Stephan Snyder stopft die Gerichtsdokumente wieder in die Tasche seiner Jeans: „Eine Realsatire.“ Nicht vergessen hat er, wie Zimmermann in der ersten Kriminologie-Stunde bohrte: Was ist überhaupt abweichendes Verhalten? Und was gehört bestraft? Der Professor hat jetzt ein Gnadengesuch abgeschickt. Bleibt das ungehört, wird Stephan Snyder wohl alte Bekannte besuchen. In der Justizvollzugsanstalt Darmstadt-Eberstadt. Dort hat er sein erstes sozialpädagogisches Praktikum gemacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen