: Klick in die Nähe
■ Viel Spaß beim Frust mit dem Web: Eine Arbeit von Holger Friese in der Kunstbank
Wer abends in Mitte unterwegs ist und siebenundzwanzigeinhalb Minuten übrig hat, der sollte diese glücklichen Umstände nutzen, um in der Brunnenstraße vorbeizuschauen. Gleich da, wo sie in den Rosenthaler Platz einmündet, fällt das herrlich grün erleuchtete Schaufenster der neu eingerichteten Kunstbank im Gebäude der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur auf. Steht man vor der Kunstbank, bemerkt man etwa in Kniehöhe über dem Trottoir eine kleine Projektion im Format 18 x 24 cm. In genau siebenundzwanzigeinhalb Minuten spult sich dort ein Video ab, das allerlei denkwürdige Fotos zeigt. Es ist ein hübsches, rätselhaftes Vergnügen, auf das man da in der Nacht plötzlich stößt.
Schaut man tagsüber in der Kunstbank vorbei, erfährt man, dass es sich um eine Arbeit von Holger Friese handelt, einem der Senatsstipendiaten 1999 im Bereich Bildende Kunst, der hier bis zum 29. Oktober ausstellt. Die Projektion zeigt sein privates Bildarchiv, also alle Fotonegative, die sich dort fanden. Es liegt auch eine Liste bei, in der jedes Bild, soweit möglich, mit Daten über Zeitpunkt und Ort der Aufnahme versehen ist. Zur Orientierung nützt das dem Betrachter trotzdem herzlich wenig, die Bilder bleiben ihm so unergründlich, wie das große Porträt auf Adhäsionsfolie, das gleich mehrere Male auf sandgestrahlten Glasplatten aufgebracht ist, wobei jede Glasplatte per Gravur dem gleichen Gesicht eine andere Identität zuerkennt.
Diese Porträts hat Holger Friese auf der für 49,95 Mark käuflich zu erwerbenden CD-ROM „Das große Homepage Paket“ des Softwarehauses Data Becker gefunden. Dank der CD wird der Käufer in die Lage versetzt, sich im Baukastensystem binnen 15 Minuten eine eigene effektive Internetpräsenz zu erstellen. Ob man sich als Getränkehändler, Internist oder Florist zu erkennen geben möchte – für jeden Fall von Selbstanzeige gibt es einem Vorschlag zur Gestaltung der Homepage, inklusive Passfoto. Friese hat nun „Das große Homepage Paket“ zum Internetprojekt „In meiner Nähe“ umgebaut. Klickt man auf dem bereitgestellten Laptop die Adresse www.inmeinernaehe.de an, trifft man auf ein Formular, in das man seinen Wohnort mit Postleitzahl eingeben kann, woraufhin das System sämtliche Dienstleister der Gegend auszuspucken scheint.
Zunächst lässt sich die Sache also ganz gut an, die Antiquariatsbuchhandlung Weltkugel präsentiert sich mit klaren Geschäftsbedingungen, nur wo sie sich nun genau in meiner Nähe befindet, erfahre ich leider nicht. Mit dem Übersetzungsbüro Gonzales freilich beginnt der pure Horror: Kaum will ich etwas Genaueres über die Übersetzerin Sophia Piccolini erfahren, lande ich in der „Praxis Dr. Fischer“, wo sie nun Regina Kamen heißt und Sprechstundenhilfe ist. Ein neuer Klick und sie arbeitet unter dem Namen Doris Flink in der Massagepraxis Silvia Achter. Silvia Achter wiederum war zuvor bei Dr. Fischer die MTA Ulrike Wasserloch. Wobei ein weiterer Klick zeigt, dass sie sich – nun Regina genannt – auch als Begleiterin für alleinstehende Herren anpreist.
Kurz und gut: In meiner Nähe scheint eine düstere Dienstleistungsmafia ihr Unwesen zu treiben. Jeder kann alles und jeder ist alles, was auch die merkwürdig verschobenen Identitäten ein und desselben Mannes auf den Glasplatten erklärt. Durfte ich diesen Mahlstrom untauglicher Informationen vom freundlichen Angebot www.inmeinernaehe.de erwarten? Andererseits, wer zwingt mich schon zum Vertrauen ins Web? Und warum soll mich Holger Friese nicht aufklären, über meine allzu hoffnungsfrohen Erwartungen, die er ins Leere laufen lässt? Wobei mich das ganz normale Web schon so oft in die Irre geführt hat, dass es mir – dank meiner inzwischen ausgebildeten resignativen Erwartungen – umso schwerer fällt, zu entscheiden, ob die Sache stinkt oder nicht.
Genau das macht nun die Perfidie sämtlicher Arbeiten von Holger Friese aus, heißen sie „unendlich, fast ...“ (www.thing.at/shows/ende.html), www.antworten.de oder www.502.org: die Begegnung mit ihnen ist für den weberfahrenen User viel schmerzhafter als für den Novizen. Denn das Spiel mit den Erwartungen, mit der nutzlos im Web verbrachten Zeit, betreibt nicht nur Friese, wenn er seine verflixten Communication Gateway Interface Scripts schreibt. Ich bin es, die sich auf dieses Spiel schon immer eingelassen hat, kaum surfe ich im Web.
Mit Friese macht der übliche Frust entschieden mehr Spaß – denn er ist eben doch ganz ungewöhnlich. Brigitte Werneburg
Kunstbank, Brunnenstraße 188 – 190, Mo. – Fr. 14 bis18 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen