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Schiefe Bäume und Pinkelkasse     ■ Von Karl Wegmann

In den Niederlanden gibt es vieles, was es in Deutschland nicht gibt. Zum Beispiel schiefe Bäume. Die stehen links und rechts an der Straße von Bergen nach Bergen aan Zee. Sieht toll aus, wie diese wirklich verdammt schiefen Bäume sich über die Straße lehnen und in der Mitte zusammentreffen. In Deutschland unmöglich. Schiefe Bäume würden hier sofort als gefährlich eingestuft: Sie könnten Autos beschädigen.

Der Holländer sieht das anders. Er stellt einfach ein Schild auf: „Vorsicht, schiefe Bäume“. Zwar haben die schiefen Bäume an der Straße nach Bergen aan Zee jede Menge Narben – aber die haben die Autos, die sie verursacht haben, mit Sicherheit auch. Und man fragt sich unweigerlich, ob so eine schräge Allee in Europa eine Zukunft haben wird. Denn Europa kommt, wie uns schon seit Jahren eingebläut wird.

Bei einem Automann wie Schröder sind schiefe Bäume natürlich nicht existenzberechtigt, und so ein moderner Mensch wie Tony Blair hat wahrscheinlich noch nie einen Baum gesehen. Die Franzosen können nur total gerade Bäume gebrauchen, um ihre Trikolore aufzuhängen, und die Griechen brennen Bäume nieder, sobald sie welche sehen, sie brauchen Bauland für Hotels.

Allein in Irland hätten schiefe Bäume vielleicht noch eine Chance. Die Iren werden zweifellos für die bizarre Note in Europa sorgen, wenn es denn wirklich kommt. Da gibt es diese irische Kneipe am Nieuw Markt in Amsterdam, nennt sich „Temple Bar Irish Pub“. Auf den ersten Blick eine ganz normale irische Tränke, wie man sie zwar nicht in Irland, dafür aber auf der übrigen Welt findet: dunkles poliertes Holz, viel Messing, überall Spiegel mit Guinness-Reklame, grüner Zierrat, Kleeblätter.

Wir ordern zwei Guinness und zwei Black Bush. Kaum haben wir den ersten Schluck genossen, da fragt Regina: „Träum ich, oder hängen da an den Toilettentüren so Dinger, wo man Münzen einwerfen muss?“ „Sieht so aus“, bestätige ich, „aber das sind sicher nur Attrappen. Da steht '1 Gulden‘, hahaha, keine Kneipe kann sich erlauben, umgerechnet 90 Pfennig fürs Pinkeln zu nehmen.“ Wir bestellen die zweite Runde. „Okay“, meint Regina dann, „Zeit, die Pinkelkassen auf Echtheit zu überprüfen.“ Sie marschiert rüber und rüttelt, wie damals Schröder am Gitter vom Kanzleramt, an der Tür vom Damenklo. Abgeschlossen. „Unverschämte Beutelschneiderei“, echauffiert sie sich, „lass uns hier sofort verschwinden!“ Ich überlege noch, wann ich das letzte Mal das Wort Beutelschneider gehört habe, da hat sie auch schon ihre Jacke an.

„Moment, Moment“, versuche ich sie zu beruhigen, „das ist bestimmt nur ein Scherz. Wenn man wieder rauskommt, kommt bestimmt auch der Gulden wieder raus.“ Sie guckt skeptisch. „Na gut“, sagt sie dann, „ich probier's.“ Aber, was soll ich sagen, der Gulden kam nicht wieder.

Wir blieben dann doch noch. Und es wurde noch ein netter Abend, dank der Touristen, die dringend aufs Klo mussten. Wir lernten jede Menge neuer Flüche in allen Sprachen Europas – und gingen zum Pinkeln nach nebenan in den Coffee Shop. Auf dem leicht ondulierten Heimweg herrschte große Einigkeit: Europa kann kommen – aber nur mit Pinkelkassen und schiefen Bäumen.

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