■ Weißrussland: Immer mehr protestieren gegen Lukaschenko: Ein heißer Herbst
Wer bislang noch glaubte, die weißrussische Opposition reduziere sich auf ein paar Unerschrockene und Sturköpfe, die sich auf verlorenem Posten und unter Gefahr für Leib und Leben in einem fast aussichtlosen Kampf für Grund- und Menschenrechte aufreiben, ist seit dem vergangenen Wochenende eines Besseren belehrt. Immerhin gelang es den Kritikern des autoritären Staatspräsidenten Alexander Lukaschenko, 20.000 Menschen zu Protesten gegen die Regierung in Minsk auf die Straße zu bringen.
Und das trotz der berechtigten Befürchtung, zusammengeschlagen, mit einer Geldstrafe belegt zu werden oder gleich ins Gefängnis zu wandern. Die Menschen protestierten, obwohl sie wussten, dass das Regime wahrscheinlich nicht einmal vor Mord zurückzuschrecken scheint – wie im Fall der drei seit Monaten „verschwundenen“ Oppositionellen.
Auch am vergangenen Wochenende reagierte das Lukaschenko-Regime in althergebrachter Manier: mit Schlagstöcken und Verhaftungen. Doch wie lange diese Taktik Lukaschenkos, der seit Juli dieses Jahres ohne Mandat regiert, noch aufgeht, ist fraglich.
Denn die guten, alten Zeiten, wo noch die Mehrheit der Weißrussen fest hinter ihrem Präsidenten stand, sind vorüber. Besonders in den größeren Städten, wo die Menschen Zugang zu anderen Medien als der staatlich kontrollierten Lukaschenko-Jubel-Presse haben, ist das Bewusstsein längst geschärft, in einer Diktatur zu leben, in der Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Zudem belegen jüngste Umfragen, dass nur noch zehn Prozent der Bevölkerung eine Union mit dem großen Nachbarn Russland befürworten.
Die Union existiert bislang lediglich auf dem Papier und dürfte dem Machtgerangel zwischen Minsk und Moskau zum Opfer fallen. Zudem werden die russischen Kritiker der geplanten Union nach den jüngsten Ereignissen erneut Auftrieb erhalten. Aber auch die russische Regierung dürfte, wie einst nach der Verhaftung des für einen russischen Fernsehsender tätigen Journalisten Pawel Scheremet, um eine eindeutige Stellungnahme nicht herumkommen. Und das nicht zuletzt deshalb, weil mit der Abgeordneten der liberalen Jabloko-Partei, Olga Bekemischewa, wieder eine Vertreterin des russischen Parlamentes Opfer der jüngsten Verhaftungen ist.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die bereits seit Monaten erfolglos zwischen den verfeindeten Lagern zu vermitteln versucht, wird sich jetzt fragen lassen müssen, wie lange sie an ihren Dialogversuchen in der jetzigen Form noch festhalten will. Es sei denn, deren Vertreter halten die geplanten Gespräche zwischen Lukaschenko und von ihm handverlesenen Vertretern der „richtigen“ Opposition allen Ernstes für einen viel versprechenden Auftakt. Schon jetzt prognostizieren Oppositionelle in Weißrussland einen heißen Herbst. Dass der kommt, steht fest. Barbara Oertel
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