: Chinesisches Wolfsburg
Changchun in der Mandschurei galt als Opfer chinesischer Reformpolitik. Doch die Talsohle scheint überschritten – die Stadt ist zur Autometropole geworden ■ Aus Changchun Georg Blume
Unter dem erloschenen Schlot eines Kohlekraftwerks wartet ein weißer Volkswagen. Er ist vor der Eingangstür eines im Ruß ergrauten Wohnblocks geparkt. Oben, im dritten Stock des Arbeiterhauses, macht ein Chauffeur aus dem benachbarten High-Tech-Investmentpark Mittagspause. Unten im Hof bestaunen Kinder das neue Auto.
Noch einmal, wie schon in Westdeutschland nach dem Krieg, versinnbildlicht der Wolfsburger Konzern den Neuaufbruch in einem schon totgeglaubten Land. „Land, nichts als Land. Graues, flaches, monotones Land, so weit das Auge reicht“, notierte der Spiegel-Reporter Tiziano Terzani, als er Anfang der 80er-Jahre als einer der ersten Ausländer den Nordosten Chinas bereisen durfte. Bei diesem Eindruck ist es bisher geblieben: „Tung Pei“, der Nordosten, der im Ausland „Mandschurei“ genannt wird, gilt als das zum Sterben verurteilte Ruhrgebiet der Volksrepublik. Nichts als trostlose Weiten und dreckige Industriestädte begegnen dem Besucher. Umso erstaunlicher, dass die Autohersteller aus Wolfsburg hier schon im Jahr 1988 Fuß fassten.
Es hat sich offenbar gelohnt. Auf der bislang größten Automesse der Mandschurei weihten Konzernherren aus Deutschland in diesem Herbst ein neues Modell ein und feierten. Dazu gab es auch einen guten Grund: Ihr 1991 gegründetes Joint Venture mit dem größten Automobilwerk der Stadt Changchun hat nach vielen Schwierigkeiten im vergangenen Jahr zum ersten Mal mit Gewinn gearbeitet. Dabei freuten sich nicht nur Deutschen. „Das Joint Venture mit den Deutschen ist das gute Beispiel, dass es uns mit ausländischen Managementmethoden besser gehen würde“, sagt ein entlassener Arbeiter der Changchuner Traktorenfabrik. In einer Region, die seit Jahren nur noch Fabrikschließungen und Produktionsrückgänge meldet, ist der Erfolg von Volkswagen ein erstes Zeichen, dass das Leben nach dem Maoismus weitergeht.
Nichts ist mehr wie früher in der alten Hauptstadt der Mandschurei. In diesem Jahrhundert kamen erst die Russen, dann die Japaner und dann wieder die Russen, um Changchun zu der einst nach Shanghai modernsten Stadt Chinas aufzubauen. Von 1932 bis 1945 regierte hier „der letzte Kaiser“, der von den Japanern geköderte Thronfolger Pu Yi, über den Marionettenstaat Mandschukuo. Die damals von den Japanern gelegte Industriebasis nutzte Mao in den Fünfzigerjahren. Mit Hilfe der Russen entstand in Changchun das wichtigste Ingenieurs- und Forschungszentrum der jungen Republik. Viele Rüstungsbetriebe, die in den vergangenen Jahren schließen mussten, ließen sich nicht weit von Changchun nieder. Und am 15. Juli 1956 rollte hier das erste in China produzierte Kraftfahrzeug, der Lkw „Befreiung“, von der Werkbank.
„Wir waren sehr stolz“, erinnert sich Liu Jicheng, der im gleichen Jahr sein Ingenieursstudium in Changchun begann. Dreißig Jahre später produzierte die Erste Automobilfabrik (FAW) immer noch das gleiche Lkw-Modell, und Liu, der die Begeisterung für seinen Ingenieursberuf nicht verloren hatte, war der Verzweifelung nahe. So trat er 1991 als einer der ersten chinesischen Ingenieure zum Joint Venture mit Volkswagen über. Bei FAW gab es keinen Druck von außen und deshalb keinen Fortschritt“, berichtet Liu. „Heute gibt es neben VW nur noch fünf große Autohersteller weltweit, und für eine eigenständige chinesische Autoindustrie ist es zu spät. Wir müssen deshalb froh sein, wenn wir unter dem Dach von Volkswagen den Automobilstandort Changchun erhalten können.“
Und doch kann Volkswagen allein die Zwei-Millionen-Stadt nicht retten. Nur fünftausend Angestellte zählt die neue Joint-Venture-Fabrik, im Stammwerk von FAW sind es immer noch zweihunderttausend. Das Elend der nach hergestellten Fahrzeugen und Beschäftigtenzahl größten chinesischen Kfz-Fabrik ist nicht zu besichtigen. Zur Automesse hat die Werksleitung ein Dutzend neuer Lkw-Modelle vor dem Fabriktor postiert – damit niemand auf die Idee kommt, in eine Produktionshalle zu luken. „Siebzig Prozent der Maschinen stammen noch aus den Fünfzigerjahren. Da können wir schon zufrieden sein, wenn wir heute unterschiedliche Modelle produzieren“, glaubt der FAW-Vorarbeiter Wang Renshu.
Wang ist im alten Arbeiterviertel von Changchun aufgewachsen. Seine Familie lebt in einem der schweren, viergeschössigen Backsteinbauten, deren geschwungene Tempeldächer noch auf dem Reißbrett chinafreundlich gesinnter russischer Architekten entstanden. Hier weiß sich der Anspruchslose glücklich: „Ich brauche kein Auto. Die Fabrik ist nah, und heute reicht schon ein Monatslohn, um ein Fahrrad zu kaufen“, sagt Wang. Seine Arbeiteridylle wähnt er nicht in Gefahr. Selbst wenn China tatsächlich der Welthandelsorganisation WTO beitrete und die Zollschranken fielen, könne die Lkw-Produktion in Changchun fortbestehen. „Wir sind einfach billiger als alle anderen. Das reicht zwar nicht für den Export, aber in China können sich Bauern und Kleinbetriebe noch auf lange Zeit keine teureren Lkws leisten“, analysiert Wang die Betriebslage und hat wohlmöglich Recht. Denn es ist das große Glück von Changchun, dass die riesige FAW-Fabrik mit ihrer Fünftelmillion Arbeiter all die anderen Werkskrisen der Stadt heil überlebt hat. So kam es nicht zum völligen Zusammenbruch der Industriestruktur wie etwa in der Stahlstadt Fushun im Süden der Mandschurei. Und nur so ist möglich, dass man dem eigenen Namen wieder ein bisschen mehr gerecht wird: Changchun bedeutet „ewiger Frühling“.
Dazu passt der lang vermisste blaue Himmel. Die vielen Werksschließungen haben – unfreiwillig – die Stadt vom allerschlimmsten Smog befreit. Zeitungen melden eine Luftverschmutzung, die weit hinter Peking und anderen Großstädten liegt. Früher lag Changchun an erster Stelle in China. Mit der frischen Luft aber hat sich auch die Stimmung in der Stadt verändert: Nicht jeder besteht mehr auf dem Status quo der Industriegesellschaft. Nicht jeder schielt mehr nach einem Arbeitsplatz in der Autofabrik. Nach offiziellen Angaben erwirtschaftete Changchun 1998 sogar ein Wachstum von 11,5 Prozent und lag damit überraschend an vierter Stelle unter den Großstädten des Landes.
Den ehemaligen Angestellten der bankrotten Traktorenfabrik fällt die Umstellung schwer. „Es gibt einfach zu viele Arbeitskräfte, und wir haben nichts anderes gelernt“, sagen die Arbeiter, die vor dem hellblauen Werkstor warten, um ihre staatlich garantierte Existenzsicherung von umgerechnet vierzig Mark im Monat abzuholen. Vor allem die Alten beschweren sich. „Erst seit den Reformen unter Deng gibt es bei uns Arm und Reich“, grimmt ihr Wortführer.
Doch die Jungen hören nicht mehr hin und suchen nach Alternativen. Die einen eröffnen Reparaturwerkstätten, die anderen verkaufen Obst und Gemüse, wieder andere verdingen sich als Taxifahrer. „Seht euch die Frauen an! Sie arbeiten heute alle in Restaurants oder Geschäften statt wie früher in der Fabrik“, beobachtet Yang Yanru, ein junger Kfz-Mechaniker vom Traktorenwerk. Für ihn gibt es weder Zweifel noch Verzweifeln darüber, dass die alten Staatsfabriken schließen mussten. „Die Produkte waren zu schlecht. Wir mussten etwas Neues machen.“
Der Weg in die Zukunft führt mit dem Chauffeur des weißen Volkswagens aus der Arbeitersiedlung neben der Traktorenfabrik in den frisch angelegten High-Tech-Park zum Konzernmächtigen Shen Yanzhu. Der Vorsitzende der nach ihm benannten Shenda-Gruppe hält zur Messe drei Firmeneröffnungen ab: eine Gasherdfabrik, eine Fabrik für die Umrüstung der FAW-Lastwagen zu öffentlichen Nutzfahrzeugen und eine Wohnungsbaufirma.
Shen, ein ehemaliger Handelsbeamter, ging erst bei einem reichen Freund in Hongkong in die Schule und gründete dann seinen eigenen Konzern. Heute sei er „von Beruf Kapitalist“, meint Shen. Das hätte man vor ein paar Jahren in Changchun noch nicht sagen dürfen.
„Wir reden immer vom Glück und der Sicherheit alter Zeiten, weil wir Angst haben, mit etwas Neuem das Gesicht zu verlieren“, sagt Shen. „Ich aber rate meinen stolzen Mitbürgern: Denkt nicht zu viel an eure Würde und Tradition. Es gibt tausend Chancen, etwas zu unternehmen.“ Das klingt nach purem Paternalismus und erlöst doch vom Anspruch der Alten. Kfz-Mechaniker Yang ist jedenfalls froh, dass seine Fabrik geschlossen wurde. Seither montiert er geschmuggelte japanische Autos und verdient doppelt so viel wie vorher.
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