: Tabu wegdiskutiert
Mit einem Vortrag zum Ende des Humanismus mit Ausblick auf Reproduktionsmedizin und Gentechnik hat der Philosoph Peter Sloterdijk eine heftige Debatte ausgelöst. Im Kern der Auseinandersetzung steht die Frage, ob menschliche Fortpflanzung künftig immer stärker der Selektion unterliegt – bis hin zur „Züchtung“. Weniger denn je sind dies rein philosophische Fragen. Aktuelle Entwicklungen in Forschung, Industrie und Politik zeigen: Die Zukunft hat längst begonnen Von Ursel Fuchs
Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird – ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalstechnik vordringt, ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“ (Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau)
Nur Schlaftrunkenheit oder elitäre Arroganz kann „verschwommen“ erscheinen lassen, was Forscher und Bioethiker seit Jahren ausbrüten: die Ver- und Entwertung des Menschen als human body shop oder Selektionspotential. Ungeachtet der Behauptung, Techniken wie die Gentechnik entstünden naturwüchsig, gerinnen wissenschaftlich-industrielle Interessen via Lobbys zu politischen Entscheidungen, sorgen für Milliardensummen einseitig gebundener öffentlicher Forschungsmittel. Aufwendige PR-Aktivitäten verweisen auf Riesenmärkte. Und weiter gilt meist, was 1984 der damalige Forschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) Wissenschaftlern riet: die ethische Diskussion um Gentechnologie und Embryonenforschung strikt intern zu führen, da sonst Grundsatzdiskussionen ausbrechen könnten.
Während sich Therapieversprechen zunehmend als uneinlösbar erweisen – etwa bei der Somatischen Gentherapie, die erst kürzlich ein Todesopfer forderte –, werden andere Ziele der Gentechnik deutlicher: Es geht um Einsparungen im Gesundheitswesen durch kostengünstige Selektion per Testdiagnostik, um lukrative Verfügbarkeit von Organen, Geweben, Zellen, Genen, Daten – um die Ausbeutung und Inbesitznahme der letzten Ressourcen: der Materialien Pflanze, Tier und Mensch.
Das Human-Genom-Projekt läuft in die Endrunde, Gentests sind in galoppierender Entwicklung; schon diskutiert man die Erweiterung der Screeningkriterien (Behandelbarkeit) auf genetisches Screening hin. Tabus bröckeln bei der hier zu Lande verbotenen Präimplantationsdiagnostik, bei Embryonen- und Keimbahnforschung. Die EU-Patentierungsrichtlinie und die Europaratskonvention zur Biomedizin sind rechtskräftig, die Unesco-Deklaration zum menschlichen Genom verabschiedet. Jetzt kommt Sloterdijk und will einen Kodex der Anthropotechniken. Wo bleibt die öffentliche Debatte zu solchen Fragen?
Welche real existierenden oder realisierbaren Methoden hält unsere Gesellschaft mit ihren ethischen Grundsätzen für vereinbar? Etwa das Embryonenklonen – laut Embryonenschutzgesetz verboten, im Klonverbotsprotokoll zur Biomedizinkonvention (l997) nicht ausgeschlossen – mit der Konsequenz des enttabuisierten Klonens? Transplantation embryonaler Stammzellen – mit uneingelösten Therapieversprechen? Ein bisschen Präimplantationsdiagnostik – zur Veränderung des Erbguts in den Keimzellen? Eispende, Eierstocktransplantationen, Geschlechtswahl von Embryonen (nicht nur in arabischen Ländern ein heißes Thema), Forschung an überzähligen Embryonen? Vor allem Frauen sind der Gefahr ausgesetzt, instrumentalisiert zu werden – etwa von der Eispende bis zur Embryonenproduktion für die Forschung. Sloterdijk fordert, ohne derartige Fragen auch nur zu betrachten, ex cathedra Regeln ein für den Menschenpark. Biologistischer kann ein Blick nicht sein.
Zunehmend wird es um kostengünstige Kontrolle gehen, um präventive Selektion von Menschen mit möglicherweise kostspieligen und erblichen Krankheiten. So viele Kongresse wie noch nie behandelten l998 die so genannte Reprogenetik, die lange hartnäckig abgestrittene Verknüpfung von Reproduktions- und Gentechnik. Octavi Quintana gab seiner rhetorischen Frage „Warum wählen wir Reproduktionsmedizin und nicht etwa Krebs oder Herzkrankheiten als Aufgabe für die Gentechnik?“ auf einem Kongress im französischen Rennes die erhellende Antwort gleich mit: „Wir müssen auf Prävention bestehen!“ In Zeiten, da sich die Schere zwischen der Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen und verfügbaren Ressourcen immer weiter öffne, sei es wichtig, Erbkrankheiten zu vermeiden. Das heißt Ausmerzen von Risiken, Defekten oder Anlagen, etwa mit der verbreiteten, bei uns laut Embryonenschutzgesetz verbotenen Präimplantationsdiagnostik.
Nach künstlicher Befruchtung kommen nur gesunde Embryos in den Uterus. Embryonen, die als Träger einer Erbkrankheit ermittelt werden, werden der Forschung zugeführt oder gleich vernichtet. Inzwischen dreht sich der naturwissenschaftliche Streit wegen der eugenischen Selektionsmethode nur mehr um die Frage, ob die untersuchte embryonale Zelle zum Zeitpunkt der Biopsie noch totipotent ist – zur Entwicklung eines weiteren Embryos fähig – oder soeben nicht mehr, also nur noch pluripotent.
Positionen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), des Humangenetikerverbandes und der Bundesärztekammer können strikte Verbote dahinschmelzen lassen, die Biomedizinkonvention öffnet die Tür über Selektion bei geschlechtsgebundenen Krankheiten. Präimplantationsdiagnostik schafft Riesenmärkte für die großen Reproduktionskliniken, für Gentests – und für Anreize zum Embryonenklonen. So vermutet der Embryologe Jacques Testart angesichts immer mehr testbarer, wenngleich nicht behandelbarer Krankheiten, dass bald ein einziger Embryo zum Testen nicht mehr ausreicht: Zwanzig Tests an einem einzigen Embryo, das ist schwierig. So bleibe es nicht aus, dass man Blastomeren klone, embryonale Zellen eines frühen Keimes. Testart: „So kann man so viele Zellen erzeugen, wie das Erbgut Informationen hergibt.“ Ein idealer Einstieg in die Keimbahnintervention.
Die Diskussion um Bioethik ist etabliert worden, um den naturwissenschaftlichen Fortschritt zu überprüfen, ohne ihn in Frage zu stellen. Die Verteidigung des Machbaren aber dient der Akzeptanzbeschaffung. Institute, Programme, Kommissionen betreiben Politikberatung im Bermudadreieck zwischen Wissenschaft, Industrie und Regierungen: in Expertengremien ohne demokratisches Mandat. Wo hörte man Sloterdijk zu Begriffs- und Zielbestimmung der Bioethik? Wohl kaum im Diskurs mit der von ihm so genannten deutschen Entrüstungsindustrie. Ebenso wenig in der Auseinandersetzung mit Bioethikern wie dem Philosophen Hans-Martin Sass, bis l996 im Vorstand der Professor's World Peace Academy (Mun-Sekte), der bereits l987 für Keimbahneingriffe eintrat.
Ebenfalls l987 zitierte die Zeit den Münchner Professor Ernst-Ludwig Winnacker als Befürworter einer Keimbahnintervention. l997, unmittelbar vor seinem Amtsantritt als neuer Präsident der DFG, glänzte Winnacker in der Süddeutschen Zeitung mit dem markigen Satz: Keimzellen sind für uns tabu.“ 1999, als DFG-Präsident, verrät Winnacker im Focus die Ergebnisse von Studien in seinem TTN-Institut (Technik-Theologie-Naturwissenschaften), und siehe da: „Die erste Stufe, der Eingriff in die Keimbahn zum Zweck der Behandlung schwerer und schwerster Erbfehler, hielten wir angesichts der Natur dieser Krankheiten für ethisch gerechtfertigt.“
Wegdiskutiert wurde das Tabu der Keimbahnintervention nicht nur im Lenkungsausschuss für die Biomedizinkonvention bis l996, bis schließlich nur mehr die Vererbbarkeit der Keimbahntherapieresultate verboten blieb. Noch weiter gingen US-Genetiker l998. Sie fuhren künstliche Chromosomen als Problemlöser auf: Sie sollen der Vererblichkeit einer Veränderung entgegenwirken. Forschung zur Keimbahntherapie ist nach den Erläuterungen der Konvention erlaubt, wenn eine Ethikkommission zustimmt. Herangedacht haben sich die philosophischen Dienstleister – wie der katholische Priester und Philosophieprofessor Ludger Honnefelder, seit l992 Mitglied im Lenkungsausschuss – schon lange: Bereits l993/94 wurde in seinem Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) in einer Studie gefragt, welche Eingriffe in die Keimbahn als gerechtfertigt zu akzeptieren und welche abzulehnen seien. Auf Anfragen war die Studie bislang nicht zu bekommen.
Sloterdijk fordert ein Regelwerk für Anthropotechniken ein. Bei einiger Aufmerksamkeit hätte er seit l994 registrieren können, wie sich 2,5 Millionen BundesbürgerInnen wehren – gegen ein Regelwerk, wie er es anmahnt: Die Biomedizinkonvention des Europarates, über Jahre von einem Lenkungsausschuss erarbeitet, gelangte l994 nur durch die Indiskretion einer BürgerInnengruppe in die Öffentlichkeit. Sie stellt völkerrechtlich verbindliche Weichen, wie Sloterdijk sie fordert. Damit geht sie weit hinaus über zahlreiche strenge Verbote aus gültigem deutschen Recht. Die Konvention ist für Europa rechtskräftig, nachdem die dafür erforderlichen fünf Europaratsnationen sie ratifizierten, ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland sie wegen der anhaltenden Proteste nicht unterzeichnete.
Immer wieder beschworen Konventionsbefürworter die Chance, strengere deutsche Gesetze beizubehalten. Trotzdem befasste sich bereits über Jahre eine Bundländerarbeitsgruppe mit Vorarbeiten zu einem neuen Fortpflanzungsmedizingesetz, auch dies ohne Kenntnis der Öffentlichkeit und Beteiligung von Abgeordneten. Traute Schroeder-Kurth, Humangenetikerin, im Frühjahr l998: „Jetzt gibt es eine ganze Menge Probleme – Präimplantationsdiagnostik, Keimbahntherapie – und neue Möglichkeiten, die den Gesetzgeber veranlassen, eine Bundländergruppe zu kreieren, um darüber nachzudenken, ob es nicht besser ist für einen Staat, ein Gesetz zu machen, als es der Bundesärztekammer mit Richtlinien zu überlassen.“
Während die Biomedizinkonvention auch ohne deutsche Ratifizierung Rechtskraft hat, bestehen BürgerInnen umso vehementer auf ihrem im Grundgesetz verbrieften Mitbestimmungsrecht, wenn Änderungen am strengeren deutschen Embryonenschutzgesetz, der Entwurf eines zusätzlichen Fortpflanzungsmedizingesetzes und ein Forschungsgesetz zur Debatte stehen. Denn hier droht die Gefahr, dass die Konventionsbestimmungen auf nationaler Ebene vorerfüllt werden könnten.
Diese Forderung nach Mitbestimmung erscheint umso bedeutsamer, als eine Enquetekommission zu ethischen Fragen der Biomedizin kaum noch Chancen hat. Denn Wolf-Michael Catenhusen, Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, sieht politischen Handlungsbedarf, will einen „Nationalen Ethikrat“ mit Experten. Gerade deshalb: Die öffentliche Debatte ist unverzichtbar. Damit nicht vollends zutrifft, was Ulrich Beck vor gut zehn Jahren schrieb: Das Ende der Demokratie ist kein Knall, sondern der leise Übergang in eine autoritäre Technokratie, in der der Bürger vielleicht gar nicht bemerkt, dass die Kernfragen des Überlebens sich längst seiner Mitwirkung entzogen haben.“
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