piwik no script img

Die Hölle in Grosnys Klinik Nummer neun

■  Nach dem Angriff auf den Marktplatz der tschetschenischen Hauptstadt sind Krankenhäuser mit der Versorgung der Verletzten völlig überfordert. Es fehlen Wasser, Strom und Medikamente. Die Menschen stehen unter Schock

Grosny (AFP) – Die Flure, die nur durch Kerzenlicht erleuchtet sind, sind von Blutlachen übersät. Verletzte liegen überall inmitten von Leichen, die bis jetzt niemand Zeit hatte abzutransportieren. Es ist die Hölle im Krankenhaus Nummer neun in Grosny, nach dem Raketenangriff auf einen Marktplatz und eine Entbindungsklinik im Zentrum der tschetschenischen Hauptstadt. Frauen schreien, verängstigt und immer noch die grauenhaften Bilder des Vortages vor Augen. Sie mussten mit ansehen, wie dutzende Körper von den Granaten zerfetzt wurden.

Einer vorläufigen Bilanz des Pressezentrums der tschetschenischen Streitkräfte zufolge wurden bei den fünf Raketenangriffen auf Grosny am Donnerstag 137 Menschen getötet und 260 verletzt, die meisten davon schwer.

„Sie sagen, dass sie gegen die Terroristen vorgehen. Doch die Terroristen, das sind wir. Sie wollen uns alle töten“, sagt Seda, 48 Jahre alt, die gerade den Markt verließ, als eine Rakete einschlug. Sie wurde von Granatsplittern am Rücken verletzt. „Nichts Schlimmes“, sagt sie und zeigt auf die anderen Verwundeten, die sich vor Schmerzen winden. Die Ärzte und Krankenschwestern sind völlig überfordert und erschöpft. Es gibt im Krankenhaus weder Wasser noch Strom, genauso wenig wie im Rest der Stadt. Es ist kalt und finster, Wasser wird in Eimern geholt, zur Beleuchtung dienen Kerzen oder Petroleumlampen. Den Operationssaal versorgt der einzige noch funktionsfähige Generator.

Es ist unmöglich, alle Verletzten zu versorgen. Medikamente gibt es nicht. Die letzten Reserven wurden Anfang September verbraucht, als die russischen Truppen begannen, Tschetschenien zu bombardieren. Zur offiziellen Begründung hieß es, Moskau wolle die Basen der islamistischen Rebellen zerstören, die im August die tschetschenische Nachbarrepublik Dagestan angegriffen hatten.

Eine russische Rakete, eine Scud-Rakete von zwölf Metern Länge, schlug am Donnerstag mitten auf einem Marktplatz von Grosny ein, dort, wo die Händler ihre Stände mit Getränken, Fleisch und Gemüse aufgebaut hatten, und hinterließ einen Krater von zwei Meter Durchmesser.

Körperteile von rund einem Dutzend Leichen lagen gestern Mittag noch auf dem Marktplatz, inmitten von Metall- und Betonsplittern. Dort versammelten sich kleine Gruppen von Menschen, immer noch unter Schock, und versuchten einander zu trösten.

„Mit meinen eigenen Augen habe ich die Rakete einschlagen sehen. Neben mir wurden fünf Menschen getötet und einer Frau die Hand abgerissen“, erzählt der 45-jährige Aslan. „Das ist sie, die Politik des russischen Premierministers Wladimir Putin. Er versichert ständig, dass er der Bevölkerung helfen, sie retten wolle. Doch sie wollen uns alle vernichten“, sagt eine Frau.

An Zynismus kaum noch zu überbieten ist ein Kommuniqué, das die russische Regierung gestern veröffentlichte. Darin heißt es, dass alle Fragen, die die Situation in Tschetschenien betreffen, am Verhandlungstisch gelöst werden, und weiter: „Die Bevölkerung von Tschetschenien, in ihrer Eigenschaft als Bürger unseres Staates, soll wissen, dass sie Schutz und Hilfe von der russischen Regierung erhalten wird.“

Am Donnerstag Nachmittag war der Markt in Grosny, wie gewöhnlich, voller Menschen. Überall waren Autos und Mini-Busse geparkt. Ein Bus, der voll besetzt war, brannte vollständig aus. Auch eine Entbindungsstation, am Platz der Freiheit, unweit des Palastes des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maskhadow, wurde voll getroffen. In den Trümmern wurden verkohlte Leichen vun Neugeborenen gefunden. Sofort nach den Bombardierungen zählten Helfer 27 Leichen im Hof des völlig zerstören Gebäudes. Der Schock sitzt tief. „Als Antwort werden wir zu ebensolchen Methoden greifen“, sagt Aslambek Ismailow, Stellvertreter des Militärkommandanten für den östlichen Sektor Tschetscheniens.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen