Das Ende der Zauberer von Bern

■  40 Jahre wurde die Schweiz von einer Koalition der vier größten Parteien regiert. Jetzt fordert Wahlsieger Blocher den Ausschluss der Sozialdemokraten

Bern (taz) – Es war im Jahre 1919, als die Eidgenossen einen für die Schweiz geradezu revolutionären Schritt vollzogen und vom Mehrheits- zum Verhältniswahlrecht wechselten. Damit gelang es Katholisch-Konservativen und Sozialdemokraten endlich, auf Kosten der allmächtigen Freisinnigen ins Bundeshaus zu Bern so viel Abgeordnete zu entsenden, wie es ihrer tatsächlichen politischen Stärke entsprach.

Am letzten Sonntag hat die Schweiz durch den Sieg der Volkspartei (SVP) eine ähnliche historische Zäsur erlebt. Mit einem Wähleranteil von deutlich über 20 Prozent ist die einst kleine Bauern- und Gewerbepartei innerhalb weniger Jahre hinter den Sozialdemokraten (SPS) zur zweitgrößten Partei des Landes aufgestiegen. Gemessen an der Zahl der Abgeordneten in beiden Kammern könnte die SVP nach erfolgreichen Nachwahlen gar zur stärksten Partei werden. So gewann sie im Nationalrat 15 Sitze hinzu, ihre Fraktion zählt mit 44 Abgeordneten nur 6 weniger als die der Sozialdemokraten. Eine „historische Wende“, schrieben viele Schweizer Zeitungen.

Der Sieg der SVP ist in erster Linie auf die Sogwirkung dieser Partei im rechten politischen Lager zurückzuführen. Kleine Rechtsparteien wie die nationalistischen Schweizer Demokraten und die Freiheitspartei (die einstige Autopartei) wurden zerrieben und verloren jegliche Bedeutung. Doch die SVP hat nicht nur rechtsaußen Stimmen abgeholt, auch von den Parteien der Mitte wurden erfolgreich Wähler gewonnen. Im Kanton St. Gallen etwa ist die SVP sechs Jahre nach ihrer Parteigründung zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen. Die geringen Sitzverluste der Sozialdemokraten haben dagegen weniger mit der SVP als mit dem Proporz-Wahlrecht zu tun – auch wenn einige enttäuschte SP-Anhänger nun für Blocher stimmten.

Besser als erwartet schnitten die Grünen ab. Ihnen wurde eine schwere Niederlage vorausgesagt, jetzt konnten sie ihre Mandate im Nationalrat um einen Sitz von acht auf neun erhöhen. In der Stadt Zürich ging ein Sitz verloren, doch konnte dies im Kanton Bern und in der Stadt Genf wieder wettgemacht werden.

Erstaunlich gut hat die SVP in der französischen und italienischen Schweiz abgeschnitten. Bisher hatte die Partei ihre Wähler fast ausschließlich in den Kantonen der deutschen Schweiz gefunden. Im Kanton Waadt gewann die Partei einen Sitz, in der UNO-Stadt Genf hat die SVP-Sektion deutlich zugelegt und einen Sitz nur knapp verpasst. Im Tessin konnte die SVP ihre Wählerschaft verdoppeln und verhalf so der mit ihr auf einer gemeinsamen Liste angetretenen Lega dei Ticinesi, einer lokalen populistischen Rechtspartei, zu einem Sitzgewinn. „Einen Röstigraben“ zwischen deutscher und welscher Schweiz, darüber waren sich am Sonntagabend die Kommentatoren einig, gibt es in der Schweiz nun nicht mehr.

Die Schweiz mit ihrer großen Parteienvielfalt ist auf dem Weg zu einem tripolaren politischen System. Auf der Linken hat sich die SP etabliert, auf der Rechten ist Blochers SVP zum entscheidenden Faktor geworden. In der politischen Mitte schlugen sich Christdemokraten (CVP) und Freisinnige (FDP) achtbar und ohne große Verluste. Auf der Suche nach ihrer eigenen Identität wird es immer wahrscheinlicher, dass diese beiden Parteien in den nächsten Jahren näher zusammenrücken und vielleicht sogar eine große bürgerliche Partei der politischen Mitte ins Leben rufen werden.

Mit dem Erdrutschsieg der SVP hat in der Schweiz die Diskussion über die zukünftige parteipolitische Zusammensetzung der siebenköpfigen Bundesregierung eingesetzt. Bisher hatten Sozial- und Christdemokraten sowie die Freisinnigen je zwei Sitze, einer blieb für die SVP übrig. Stunden nach dem Triumph forderte Blocher einen zweiten Sitz und die Bildung einer Mitte-rechts-Regierung. Für die Schweiz käme dies einer Revolution gleich, seit 1959 hatten stets die vier stärksten Parteien die Regierung gebildet und mit dieser „Zauberformel“ für stabile Verhältnisse gesorgt.

Dass SPS, CVP und FDP dem Drängen der SVP nachgeben, ist höchst unwahrscheinlich. Ausgeschlossen auch, dass Nationalrat Christoph Blocher in die Bundesregierung gewählt wird. So schnell werden im Bundeshaus – Erdrutschsiege bei den Wahlen hin oder her – die politischen Verhältnisse nicht verändert. Wer in der Schweiz auf einer extremen Seite politisiert, ist nach Ansicht einer Mehrheit der Bevölkerung wenig geeignet, im konsensualen Regierungssystem dieses Landes ein Regierungsamt auszuüben. Das gleiche Wahlvolk scheint es dagegen ganz gern zu sehen, wenn polarisierende Kräfte frischen Wind in die Politik bringen. Im Notfall kann der Souverän Beschlüsse aus Bern in einer Volksabstimmung ja wieder rückgängig machen.

Markus Rohner