Nachdenken über Stephan D.

■ Herbert Reinecker stellte ein unveröffentlichtes Drehbuch vor

Warum 60 Minuten eines Montags plötzlich doppelt solange dauerten, ist schnell erzählt. Etwa so:

Seit ein paar Wochen schon veranstaltet die Kölner Agentur Barbarella auch in Berlin readings. Schauspieler lesen unveröffentlichte Drehbücher. Fertige Geschichten, die in den TV-Film-Redaktionen verstauben. Zu aufwendig oder prekär für eine Verfilmung, zu gut für den Schredder. Vorgestern war's eine „Derrick“-Folge. Die 281. Die Letzte. Clärchens Ballhaus war ausverkauft, Ludger Pistor als Tappert, Georg Uecker als Harry und Peter Fitz als böser alter Mann verpflichtet. Drehbuchautor Herbert Reinecker war anwesend, die Stimmung gut, die Lesung auch und das Ganze nach zwei Stunden vorbei.

„... aber“, so stand's in Oberinspektor Derricks Drehbuch, „ich habe das Gefühl, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken.“

Schließlich sah Derricks TV-Abschied im September 98 ganz anders aus als diese depressive Geschichte vom bösen alten „Doktor Traut“, der sich tatsächlich traut, junge Menschen mit trüben Gedanken in den Tod zu treiben. „Aber als ich die Hälfte geschrieben hatte“, erzählte Reinecker, „wusste ich schon, dass es nicht verfilmt werden würde.“ Schließlich habe er „eine Verbindung zwischen einer Serie und dem ganz Großen“ gesucht. Also Auschwitz.

„Dr. Traut“ ist das Vermächtnis eines 85-Jährigen geworden, der immer noch „Bildwerfer“ statt „Diaprojektor“ in die Regieanweisungen schreibt. Um so erschreckender war es denn auch, dass sich Reineckers „Fragen von großer aktueller Wichtigkeit“ von pubertären Sinnsuchereien kaum unterschieden: „Was ist morgen?“ – „Wer ist der Mensch?“ – „Ist Mord aus der Welt zu vertreiben?“

Zwar findet die Fantasie des alten Mannes gespenstisch virtuose Bilder, lässt unseren Derrick etwa unvermittelt mit einem Champagnerglas in der Hand vor einer Auschwitz-Fotografie stehen ... Doch was, wenn eine Nebenrolle „Selbstmord? Selbstmord?!“ dahersagte oder: „Ich sehe plötzlich, dass ein Friedhof ein guter Platz ist, um nachzudenken“?

Einige Hundert verfolgten Reineckers faustisches Ringen mit Dr. Trauts „Interpretationen einer Wirklichkeit“. Im Fernsehen wären es 10,29 Millionen gewesen. Aber bei Auschwitz hört der Spaß auf – jedenfalls hierzulande, bzw. für Horst Tappert. „Tappert erschreckte vor dem Wort ,Auschwitz‘, und ich konnte ihn verstehen“, so Reinecker. Ob es da nur seiner Anwesenheit geschuldet war, dass sich der Saal nicht schon bei Derricks finaler Widerrede – „So nicht! Das ist die Aufgabe der jungen Leute: Dem Menschen die Mörderseele zu nehmen, dass Hoffnung zum Weltthema wird!“ – in infernalischem Gelächter entlud, weiß kein Mensch.

Aber ich habe das Gefühl, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken. Christoph Schultheis