: Fünf ohne Verleih
Aus dem Vollen geschöpft: Heute beginnt im Metropolis die Reihe „Junges französisches Kino“ ■ Jörg Taszman
„Junges französisches Kino“ ist ein schlecht zu definierender Begriff, den man fast beliebig füllen kann. Soeben lief A vendre/Zu verkaufen von Laetitia Masson in unseren Kinos, die Geschichte einer jungen Frau, die sich scheinbar wahllos Männern anbietet; im Vorjahr sorgte Erick Zoncas La vie revée des anges/Liebe das Leben für Aufsehen. Ein kleiner Berliner Verleiher hat gleich mehrere französische Filme im Angebot (La Nouvelle Eve, Fin d'août début Septembre/Ende August Anfang September, Dieu seul me voit, La vie de Jésus), die mühelos das Kriterium „jung“ erfüllen. Das Besondere an den fünf Filmen, die das Metropolis von heute an zeigt, ist, dass sie alle keinen deutschen Verleih haben.
Gleich drei Werke sind von Regisseurinnen, so auch der Eröffnungsfilm L'Examen de Minuit von und mit Danièle Dubroux. „Natürlich, aber nicht naturalistisch“ nannte der Kritiker von Libération diesen Reigen um Marianne, einer Pariserin mit Landhaus, Antoine, dem schriftstellernden Gatten auf Abwegen, der wiederum auf Séréna (Gérard Depardieus Tochter Julie) trifft, die gerade ihren Bräutigam sitzen gelassen hat.
Sehr viel ernsthafter ist der erste Film der ehemaligen Sozialpflegerin Marie Vermillard. In Lila Lili verfolgt sie die junge, schwangere Micheline, die mit anderen Frauen in einem Heim lebt und seltsam abwesend scheint, weder interessiert an Männern noch an dem Kind, das in ihr wächst. Der Regisseurin ging es um ein Höchstmaß an Authentizität, viele Frauen spielen sich selber, nur wenige sind professionelle Darstellerinnen. Im Gespräch erzählt Marie Vermillard von ihrem Wunsch, Realität durch eine Aneinanderreihung von kleinen Szenen darzustellen. So liegt der einzige dramaturgische Trick des Filmes in Michelines Schwangerschaft, die in der letzten Einstellung dann auch endlich zu einem emotionalen Höhepunkt führt. Das plötzliche Ausbrechen der Wehen, ein hilfloser Mann, eine Vorortlandschaft, eingekreist von Schnellstraßen: Das sind starke Bilder zum Schluß, und endlich löst Michelines Schreien auch den bis dato unverständlichen Filmtitel auf.
Ganz in der Provinz angesiedelt ist Laurent Achards Rotterdam-Gewinner Plus qu'hier moins que demain. Zu Beginn ist heile Welt in freundlichen, warmen Farbtönen. Die 16-jährige Francoise ist verliebt in ihren Cousin Bernard, doch der entpuppt sich als Opportunist, Rassist und Feigling, den nur die Karriere interessiert. Als die ältere Schwester Sonja mit ihrem Mann zu Besuch kommt und die zugeschüttete Vergangenheit aufdeckt, steht die Familie kurz vor der Implosion. Aber geschickt behält Achard die melodramatischen Aspekte der Geschichte unter Kontrolle, verfällt nie in Klischees und sorgt beim Betrachter für große innere (An-)Spannung.
„Ich glaube nicht so recht an die Kopulation zwischen Menschen, es fehlt ein Verbindungsstück“, sagte die Regisseurin Jeanne Labrune bereits vor über zehn Jahren. Nun versuchen es in ihrem neuen Film Si je t'aime... prend garde à toi Samuel der Teppichverkäufer und Muriel die Schriftstellerin mit blankem Sex auf dem Fußboden. Beide passen nicht wirklich zueinander und können doch nicht voneinander lassen. So stellt man sich französische Filme vor.
Fast aus dem Rahmen fällt da schon der letzte Film, Vivre au paradis, ein Drama unter algerischen Einwanderern in Nanterre. Wer die Betonwüste westlich von Paris, gleich hinter La Défense, kennt, wird die Ironie im Titel verstehen. Nun spielt Vivre au paradis aber während des Algerienkrieges, als Gastarbeiter wie Lakhdar noch in slumähnlichen Vierteln wohnten, die man 1970 abriss und durch andere architektonische Schandmale ersetzte. Bourlem Guerdjou, der 33-jährige Regisseur, hat mit Roschdy Zem in der Hauptrolle fast schon einen Star des jüngeren französischen Kinos besetzt. In Deutschland sah man ihn unter anderem in Clubbed to Death von Yolande Zauberman.
Es bleibt die Frage, warum der Sammelbegriff „junges Kino“ in Frankreich auf so viele FilmemacherInnen zutrifft und hierzulande, wenn überhaupt, nur auf Tom Tykwer. Eine Antwort lautet: Dort nennt man Kino „Le septième art“, und so behandelt man es auch.
L'Examen de minuit:heute, 21.30 Uhr;Lila Lili:8.11., 21.30 Uhr;Plus qu'hier moins que demain:16.11., 21.15 Uhr; Sie je t'aime... prends garde à toi:22.11., 21.15 Uhr;Vivre au paradis:29.11., 21.15 Uhr, Metropolis
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