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Zwei Gärten zwischen den Systemen

An der Grenze zwischen Ost und West züchten Kreuzberger Familien ihr Gemüse. Obwohl der Acker westlich der Mauer lag, zählte er zum Staatsgebiet der DDR. Irgendwann wird der Acker einer Straße weichen müssen, doch vorerst dulden die Behörden den Status quo  ■   Von Annette Rollmann

Es war einmal ein Türke, der kam vor vielen Jahren nach Deutschland. Genauer gesagt nach Kreuzberg ins SO 36. Dort ließ er sich mit seiner Familie, seiner Frau, seinen Kindern, nieder. In seiner Nachbarschaft fiel ihm 1986 ein Stückchen Brachland im Schatten der Mauer auf. Ein Stück Erde, das unbewirtschaftet war, wo kein Gehweg verlief, keine Bank stand und nur der Müll der Stadt lag.

Er, Osman Kalin, fragte, wem das Stückchen Erde gehört. Niemand wusste das. Oder wollte es wissen. Er nahm sich das Stück Land und gab eine Hälfte einem Freund. Sie begannen, die Erde umzugraben. Kurz darauf stellte sich heraus: Obwohl der Flecken im Westberliner Kreuzberg liegt, war er Staatsgebiet der DDR, Ostberlin, Bezirk Mitte. Grund und Boden einer anderen Welt, eines anderen Systems, weit weg und unerreichbar hinter der dicken Mauer mit Todesstreifen und Stacheldraht. Die ostdeutschen Vopos schimpften am Anfang, duldeten am Ende.

Man könnte diese Geschichte aber auch anders beginnen: Jedes Mal, wenn der „Stadtbilderklärer“ Jodock auf den Balkon seiner Neubauwohnung tritt, sieht er drei Stockwerke tiefer weit unten auf der Straße eine kleine grüne Idylle. Einen Garten mit einem Zaun und einem Baum. Einen zweiten, davon abgeteilten Garten mit einem selbstgebastelteten Sommerhaus darauf. Es thront – oder besser: hängt – zweistöckig und windschief über den Beeten.

„Die Menschen, die den Garten sehen, sind fasziniert“, sagt Jodock. Er führt Fremde und Einheimische durch die Hauptstadt und „vermittelt ihnen die Kultur dieser Stadt“. Jodock lebt seit fast zwanzig Jahren in Kreuzberg mit dem Blick auf die Mauer. „An dem Garten interessiert die Menschen, dass es in einer so geordneten Welt wie der deutschen ein Stück Unordnung gibt.“

Man könnte aber auch einfach beschreiben, was sich Ende Oktober an einem schönen spätherbstlichen Nachmittag zutrug. Isa Özel ist gerade von seinem Fahrrad abgestiegen. Der 68jährige atmet noch ein wenig schwer, denn sein Rad ist nicht das Beste. Es gehört zu der Sorte Räder, die bunt lackiert in den frühen achtziger Jahren modern wurden. Sie wurden in jedem Kaufhaus werbewirksam und schön anzuschauen für wenige hundert Mark feilgeboten. Diese Räder zeichneten sich immer schon durch einen besonders schweren Tritt aus.

Özel sucht seinen Schlüssel in der Jackentasche und schließt das Schloss am Zaun auf. Dahinter liegt sein Reich. Und das umfängt einen mit einem starken Geruch nach Kohlpflanzen, so intensiv, wie es selten die Gerüche auf dem Land herzugeben vermögen, doch gewiss nie die der Stadt.

Im Zentrum der Hauptstadt wachsen Zwiebeln

Hier hat sich die Idylle erhalten, die zu Zeiten der Mauer in deren Schatten herrschte. Kommt man an diesem Nachmittag zu Fuß aus der belebten Oranienstraße im buntesten Kreuzberg, werden auf dem Weg zum ehemaligen Mauerstreifen am Bethaniendamm die Geschäfte immer seltener, die Menschen auf der Straße immer weniger und die Geräuschkulisse der Stadt immer leiser – auch ein ganzes Jahrzehnt nach dem dem Fall des „antikapitalistischen Schutzwalles“.

Hier in Kreuzberg, an der Rückseite des Bezirks Mitte, im Zentrum der deutschen Hauptstadt gibt es einen Ort, wo Zwiebeln wachsen, Mais geerntet wird und Sonnenblumen das Auge erfreuen. Özel selbst beackert seinen Teil des Gartens erst seit einem Jahr. Er ist sehr zufrieden. Seine Frau und seine Töchter helfen ihm bei der Ernte. Nur über die Wasserpreise schimpft er. Die seien zu hoch. Deswegen hatte schon der „Gartenvorbesitzer“ des Teils von Özel aufgegeben.

Die Geschichte des Gartens kann nur in Berlin spielen. Es ist die Geschichte einer geteilten Stadt, deren Teilung nicht nur das Leid der Trennung brachte, sondern auch ihre Possen schrieb. Die Berliner Mauer bildete an keiner Stelle ihres Verlaufs exakt die Grenze. Bei ihrem Bau verzichtete die Staatsführung der DDR darauf, jeden Meter ihres Staatsgebietes auch tatsächlich auszuschöpfen – zumal, wenn die Mauer dadurch größere Ecken und Kanten bekommen hätte.

„Das wäre den Staat zu teuer gekommen, und man hätte zu viele tote Winkel zur Einsicht geschaffen“, erklärt Hagen Koch, der ein umfangreiches Archiv zum Thema Mauer besitzt. Koch hatte einst im Stasi-Eliteregiment „Feliks Dzierzynski“ gedient und dann unter der letzten DDR-Regierung als Beauftragter für den Abriss der Mauer gearbeitet.

Die DDR duldete das Treiben im Garten stillschweigend

„Es war der Staatsführung ganz recht“, sagt Koch, „dass die eigentliche Sektorengrenze mindestens einen Meter dahinter lag, manchmal auch erheblich mehr. Die westliche Mauerseite war dann noch DDR Staatsgebiet. Dadurch hatte die DDR dort Rechte, und die Berliner Polizei hatte keine Handhabe.“

Solche DDR-Flecken gab es auch an anderen Stellen der Berliner Mauer. Etwa am berühmten Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz. In den achtziger Jahren hatten Kreuzberger Autonome auf dem exterritorialen Gebiet ein Hüttendorf errichtet – aus Protest gegen Baupläne des Westberliner Senats. Nach Auseinandersetzungen mit der Westberliner Polizei zogen sich die Jugendlichen stets auf das Lenné-Dreieck zurück, die Ordnungshüter durften ihnen nicht folgen.

Die DDR duldete das Treiben stillschweigend – bis Ost- und West-Berlin im März 1988 einen Vertrag über einen Gebietstausch abschlossen. Die vier Hektar des Lenné-Dreiecks sollten an den Westen fallen, im Gegenzug erhielt die DDR einen Teil des früheren Nordgüterbahnhofs an der Bernauer Straße.

Pünktlich mit Inkrafttreten des Abkommens am 1. Juli 1988 rückte die Westberliner Polizei mit rund 900 Mann an. Das wochenlange Katz-und-Maus-Spiel zwischen Besetzern und Staatsmacht fand ein abruptes Ende. Rund 200 Jugendliche entzogen sich der Festnahme mit einem Sprung über die Mauer.

Auch der Garten am Bethaniendamm wurde von der DDR geduldet. Letzlich war es der DDR-Staatsführung gar nicht so unrecht, dass die Mauer von westlicher Seite verschönt wurde, sei es durch Blumen oder durch Graffiti. „Das nahm den Schrecken“, sagt Mauerexperte Koch. Während in den Siebzigerjahren die Volkspolizei gegen Bemalungen an der Westseite der Mauer noch vorging, wurden die Graffiti der achtziger Jahre akzeptiert.

Jetzt, zehn Jahre später, ist der Garten vom Bezirksamt Mitte geduldet und vom Bezirk Kreuzberg gern gesehen. „Der Garten gehört mental zu Kreuzberg“, sagt der grüne Bürgermeister Franz Schulz. Für ihn ist der Garten auch eine Rückgewinnung von öffentlichem Lebensraum, der ansonsten den Bürgern in diese Stadt vermehrt genommen werde, wie etwa durch die Bauten am Potsdamer Platz. „Seitdem die Mauer weg ist, weht der Wind in dieser Stadt schärfer. Aber vor allem stadthygienischer“, findet der Kiezbürgermeister. So lange es gehe, solle der Garten mit seinen beiden Hälften bleiben.

Der Geruch des Kohls steigt dem Besucher in die Nase

Beim Tiefbauamt Mitte, in dessen Zuständigkeit der Garten fällt, ist man dem Ackerbau gegenüber weniger sinnlich eingestellt. Wenn der an den Garten angrenzende Bethaniendamm ausgebaut wird, muss auch der Garten weichen. Doch momentan sei kein Geld für den Ausbau da, sagt der Leiter des Tiefbauamts, Peter Lexen. Aber der Behördenchef sagt auch, dass er froh wäre, wenn er mit anderen Flächen in seinem Bezirk so wenig Ärger hätte wie mit dem Garten auf dem Mauerstreifen.

Den Hobbygärtner Isa Özel, der an diesem Oktobertag wie jeden Nachmittag in seinen Garten gekommen ist, ficht das alles nicht an. Nachbar Osman Kalin, der schon 1986 aus dem Müllplatz einen Garten im Schatten der Mauer gemacht hatte, weilt gerade in der Türkei bei seinen Verwandten im Erdbebengebiet. Auch Kalin lässt die Behörden erst mal Behörden sein.

In dem Garten unter dem Baum herrschen andere Gesetze des Bewusstseins. Der Geruch des Kohls steigt in die Nase, der Ackerboden federt weicht unter den Schuhen. Isa Özel repariert seelenruhig an seinem Fahrrad herum und säubert seine Hose von Matschspritzern. Schließlich holt er das Abendessen für seine Familie.

Özel hat sechs Töchter, die wiederum Ehemänner haben und Tanten und Onkels. Doch vor allem haben sie eine große Schar kleiner dunkelhaariger Kreuzberger Kinder in die Welt gesetzt.

Sie alle wohnen in der Umgebung, und der Garten im Bezirk Mitte der deutschen Hauptstadt versorgt sie.

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