: Alles über Mutter
Von Kreuzberg aus mitten rein in die deutsche Geschichte: Michael Wildenhains Stück „Der deutsche Zwilling“ ■ Von Esther Slevogt
Berlin, Bundesplatz. Ein schummriges Chinarestaurant, schlecht besucht und ziemlich miefig – kaum ein Ort, wo man Schriftsteller trifft. Mehr was für konspirative Verabredungen. Ich treffe Michael Wildenhain, Jahrgang 1958. „Ich liebe die Berliner Chinesen“, sagt er und grinst. „Die sehen alle gleich aus.“ Sagt's und bestellt eins von den Gerichten, die alle gleich schmecken.
Szenenwechsel. Ein Bunker, irgendwo bei Adlershof. Jetzt sind wir in einem Theaterstück, dem neuen Stück von Wildenhain. „Der deutsche Zwilling“ heißt es und wird heute, pünktlich vorm zehnten Jahrestag des Mauerfalls, im Saarländischen Staatstheater Saarbrücken uraufgeführt. Alles hört dort auf, wo es einmal begonnen hat, bei diesem Bunker eben. Die Leute sind immer noch dieselben, ein Mann und eine Frau. Günther und Inka heißen sie, beide längst über sechzig Jahre alt. Zwischen Seite 1 und Seite 81 vergehen zwei Leben. Und 50 Jahre deutsche Geschichte. Erst ist noch Krieg, am Ende ist die Mauer in Berlin gefallen. Dazwischen hat das bekannte Personal dieser Geschichte sein bekanntes Unwesen getrieben. Vergewaltigende Russen und verhörende Stasi-Offiziere beispielsweise. Große Politiker gaben ihre Stichworte aus dem Off, und kleine Leute haben leise gelitten und gelebt. In all der Zeit haben Günther und Inka versucht, sich zu lieben, und sind naturgemäß damit gescheitert.
Das ungefähr ist der Stoff, aus dem das neue Stück gestrickt ist. Wildenhain stochert in seinem undefinierbaren Menü. Was er da isst? M 16 stand doch auf der Speisekarte. Klingt mehr nach Waffe als nach Mahlzeit und wirft die Frage auf, ob deshalb auch die Anfälligkeit schlechter Restaurants für politische Attentate so groß ist. Der Grieche „Mykonos“, wo die iranischen Kurdenführer erschossen wurden. Oder der Chinese in Kreuzberg, wo man eine Versammlung Rechtsradikaler überfiel. Wildenhain lacht wieder und erzählt, dass es hier nicht immer so grau war. Früher lebten viele Schriftsteller hier. Grass, Johnson, Bachmann – alle quasi um die Ecke. Doch das ist lange her.
Im Jahr 1987 betritt Wildenhain die literarische Bühne. „Prinzenbad“ ist immer noch sein berühmtestes Buch. Es beschreibt eine Generation, deren Gefühle ebenso eingefroren sind wie die politische Lage damals insgesamt: die Generation Kreuzberg eben und ihre kalten Liebes- und Lebensversuche am Ende der Geschichte. Zwei Jahre später war die Generation, die eben noch an vorderster Zeitgeistfront gekämpft hatte, eine neue Lost Generation geworden.
Seitdem hat Wildenhain längst andere Romane geschrieben und mindestens ein Dutzend Theaterstücke. Seine Geschichten spielen auf der kalten Haut der Stadt und manchmal darunter. Sie handeln von der RAF oder gewalttätigen rechtsradikalen Jugendlichen. Wildenhain hat seine Zeit immer weiter schreibend begleitet. Schreiben, um zu verstehen, was passiert. Und wenn die Zeit ohne einen weitergeht, dann ist so ein Platz wie dieser schaurige Chinese ideal, um etwas kokett die Unabhängigkeit von dieser Zeit und ihren neuen, glitzernden Zentren zu demonstrieren.
Den Figuren in Wildenhains Stücken und Romanen diktierte die Geschichte bisher höchstens ihre politische Position. Eigentlich war sie bloß Folie, Hintergrund. Das Jahr 1968 war der früheste Zeitpunkt, von dem aus sie sich definierten. Bei dem neuen Stück „Der deutsche Zwilling“ ist es ziemlich umgekehrt. Die Figuren bilden die Folie, die von den historischen Terminen zugeschnitten wird: 1945 ... 1949 ... 1961 ... 1968, so geht das weiter bis 1989.
Eine Auftragsarbeit? Ja und nein, sagt Michael Wildenhain. Zwar wollte das Theater in Saarbrücken ein Stück von ihm, das exemplarisch deutsche Nachkriegsgeschichte erzählt. Aber der Auftrag passte gut, weil er schon länger an einem Roman über die Geschichte seiner Mutter arbeitete; Inka, die Hauptfigur im Stück, ist ihr nachgebildet. Inzwischen hat er also dies Theaterstück und außerdem eine Geschichte über ein paar Jungs in den 70er-Jahren geschrieben. Den Roman über seine Mutter noch immer nicht. Kein Weg hat ihn bisher aus seiner eigenen Geschichte in die Geschichte seiner Mutter geführt. Am Nachbartisch gackern ein paar Wilmersdorfer Witwen. Könnte eine von ihnen Inka sein? Nein, die sind doch viel zu alt!
Inka ist 13, als sie Günther trifft. Günther wird in die Familie aufgenommen, weil er seine eigene im Krieg verloren hat. Inka ist ein starkes Mädchen und sehnt sich doch nach einem starken Retter aus dem ganzen Kriegsschlamassel. Aber kein Retter kommt, es kommen bloß die Russen und vergewaltigen ihre Mutter. Und Günther ist schwach. Inka sagt ihm immer Immanuel Geibels schwülstige Ballade über das Schicksal der germanischen Heldin Gudrun auf. Später werden beide eine Tochter mit dem Namen Gudrun haben, die in den Sog der 68er-Revolte gerät. Bevor sie dann als Reiseleiterin Touristen durch das brennende Kreuzberg der 80er-Jahre führt.
Ob sie dort auch dem Kreuzberger Chronisten Wildenhain von einst begegnet ist? Der hätte dem Wildenhain von heute zugewunken und sich vielleicht gewundert. Wie kommt es, dass ein Autor, der einmal so radikal aus der Perspektive der Zeitgenossenschaft geschrieben hat, plötzlich fast ein Historiendrama schreibt? Ja, sagt er, er weiß, das ist im Augenblick nicht populär. Aber spricht das gegen ihn, nicht eher gegen die, die jetzt schreiben? Inka zieht unterdessen den Wagen mit der deutschen Last durch die Jahrzehnte weiter, bis sie daran zerbricht. Das starke Mädchen wird zu Deutschlands bleicher Mutter, und am Ende ist sie tot. Oder darf sie, wie bis zuletzt diskutiert, doch weiterleben? Heute werden wir das wahre Ende kennenlernen.
„Der deutsche Zwilling“ heute im Saarländischen Staatstheater Saarbrücken, Alte Feuerwache, 19.30 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen