piwik no script img

Querspalte

■ Besserwossis, Zonengabis

Vor ein paar Jahren fiel die Wende. Gern denkt man zurück an Tage rückhaltloser Betrunkenheit mit spannendem TV-Programm oder an das seltsame Gefühl, nur ein paar Kilometer zu fahren und plötzlich in den 70er-, 60er- oder 50er-Jahren zu landen. Geschichte live und Time-Mashine. Am neunten November standen Ostanarchisten am Checkpoint Charlie und sangen begeistert alle Lieder des Ton-Steine-Scherben-Doppelalbums „Keine Macht für Niemand“ im Chor, die ulkigen Ostler sorgten eine Weile dafür, dass Westberlin stonewashed aussah, und unsere liebe Zeitung hatte eine Auflage von 100.000. Prima war's!

Die Leute redeten komisch. So rührend umständlich. „Wenn wir die Frage eines zärtlichen Verhältnisses stellen, so ist darunter zu verstehen, dass meine Mutter ihre Kinder lieb hatte“, sagte etwa Erich Honecker in seinem Interviewbuch „Der Absturz“, in dem er auch von den Büchern berichtet, die ihn auf seinem Lebensweg beeinflussten: „Sehr stark erinnern kann ich mich an das Buch von Hermynia Zur Mühlen ,Der Spatz‘. Das Buch schildert das Leben eines armen Spatzen und ist deshalb so beeindruckend, weil in der Vogelwelt der Spatz der Proletarier ist.“

Mit der Mauer fielen auch ein paar neue Worte: „schau“ zum Beispiel, „urst“ und „urst schau“. Obgleich „schau“ urst schau klingt und kürzlich auch im Spiegel von Rainer Eppelmann benutzt wurde („Ick find det ja schau, wat ick jetzt mache“), hat es sich bislang nicht durchgesetzt im Gegensatz zur durchgehend vergebenen „Großchance“ in der Fußballberichterstattung. Dass die einzigen allseits als genial erkannten Ostler, also Matthias Sammer und Heiner Müller, schon bald sportinvalide waren bzw. starben, spricht Bände. Eine schöne Vereinigung hat man da hingemacht! Wenn ich die Passage lese, in der Honecker über Helmut Schmidt spricht, wird mir ganz weh ums Herz: „Wir haben uns so gut verstanden, dass in Verbindung mit den Witzen, die da ausgetauscht wurden bei seinem Besuch bei uns, ich tatsächlich einen Bonbon in der Tasche hatte und zum Abschluss gesagt habe: ,Na Helmut, hier hast du den.‘ Und er hat ihn mit Freuden genommen. Wir haben uns auch Schneebälle zugeworfen an der Treppe des Rathauses von Güstrow.“ Detlef Kuhlbrodt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen