: Stadthasen auf Grenzstreifen
■ Frei von Mahnmalsrhetorik und Erinnerungsduselei: Das Kunstprojekt „Übergänge“
Wahnsinn. Waaahnsinn!“, stammelt es aus dem Lautsprecher. Das Staunen hört, wer sich mitten auf der Bösebrücke vor dem S-Bahnhof Bornholmer Straße in eine rote Couch fallen lässt. Wie ein aufgerissenes Maul droht die tiefe Sitzschale den Passanten zu verschlingen. Vielleicht rumort es vage in seiner Erinnerung: Was war da noch, Bornholmer Straße? Grenze, Übergang? Genau das, verrät ein winziges Schild nahe dem Sesselmonster.
Die Skulptur stammt von (e.) twin Gabriel und ist Teil des Projekts „Übergänge“, einer künstlerischen Markierung von sieben ehemaligen Grenzübergängen. Am Abend des 9. November fuhr ein Doppeldecker der BVG die Stationen zwischen Bornholmer Straße und Sonnenallee ab, an Bord die Künstler, Freunde, Mitarbeiter der Bauverwaltung, die vor vier Jahren den Wettbewerb ausgelobt hatte, Architekten, Ingenieure und ein paar Flaschen Sekt.
Der Busfahrer begrüßte die Gäste. Gelegentlich traf man auf private Gedenktrupps, die mit Kerzen dem Nieselregen trotzten. Das war sicher eine der unspektakulärsten Veranstaltungen 10 Jahre nach dem Mauerfall.
Denn für die symbolische Vereinnahmung durch die Rhetorik der Gedenkkultur sind die „Übergänge“ ziemlich ungeeignet. Spielerisch unterlaufen sie die Erwartungen an die künstlerische Aufwertung eines Standortes. Irgendwann geisterte durch die Ausschreibung die Forderung, die Übergänge, die in der Zeit der Maueröffnung als Tore und Ventile funktioniert hatten, als „Orte der Geburt einer neuen deutschen Gesellschaft“ zu markieren. Solcher Überhöhung verweigern sich die Projekte. Da huschen Kaninchen als steinerne Intarsien über das Pflaster der Chausseestraße. 120 der Stadthasen, die ohne Passierscheine den Grenzstreifen bevölkerten, hatte Karla Sachse verlegen lassen, 12 gingen schon wieder bei Bauarbeiten verloren. Auf der Sandkrugbrücke, nahe dem Hamburger Bahnhof, haben Gabriele Basch und Eva Baumert Firmenlogos aus Ost und West zu einem Mosaikteppich verknüpft, der an Stickbilder, Pixel und die rasche Entwicklung von Informationssystemen erinnert.
Der „Übergang“ meint da weniger eine politische Grenze als vielmehr eine zeitliche Schnittstelle, an der der Stadtraum neu zur Disposition stand. Vielfach besetzten Investoren die Lücken, die jetzt mit Dienstleistungscentern gespickt sind. Schon vor zwei Jahren wurden die ersten Installationen von Thorsten Goldberg an der Oberbaumbrücke und von Frank Thiel am Checkpoint Charlie fertig gestellt. Thiels Leuchttafel mit den Bildern der beiden Wachsoldaten am Checkpoint bringt den Grenzalltag nüchtern auf einen Punkt, von dem aus sich viele Geschichten entwickeln lassen.
Die Vorgeschichte des Projekts reicht in die Zeit des Mauerabrisses zurück: Damals türmten sich beim Beratungsausschuss Kunst des Senators für Bauen und Wohnen die Vorschläge einer mauergedenkwilligen Künstlerschar.
Mit der Konzentration auf die Übergänge wollte der Wettbewerb dem Betroffenheitskitsch vorbauen und den Alltag mit der Mauer nicht verleugnen. Zwischenzeitlich fehlte das Geld für die Auftragsvergabe, dann fehlten Genehmigungen von Tiefbauämtern und Polizeistellen zur Realisierung des noch unter Bausenator Nagel initiierten Projekts. Unter Nachfolger Klemann scheint die Verwaltung das Interesse an einer Kunst verloren zu haben, mit der sich kein Staat machen lässt. Eine offizielle Eröffnung gab es nicht.
Katrin Bettina Müller
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