: Typischer Einzelfall
Gewalt in der Schule“ ist eigentlich ganz anders. Aber der Mord in Meißen hat typische Merkmale ■ Von Christian Füller
Berlin (taz) – So könnte eine Schilderung der Bluttat in der sächsischen Schule ausfallen, bei der die 44-jährige Sigrun Leuteritz ihr Leben ließ:
Es war eine Inszenierung. Maskiert und bewaffnet betrat der junge Mann vorgestern seine Bühne. Den Schulraum seiner Klasse 9.1, die Wetten darauf abgeschlossen hatte, dass er sich das nie trauen würde: seine Geschichtslehrerin umzubringen. Die Paukerin, die Strenge, bei der er keinen rechten Schulerfolg verzeichnen konnte. Mit 22 Stichen setzte Andreas S. sein Fanal. Wollte er damit aus einer eingebildeten Rolle als Underdog ausbrechen? Wenigstens für einen Moment? Um die grausame Bühne sogleich zu fliehen.
Experten rätseln einerseits über den Lehrerinnenmord – denn „Gewalt in der Schule“ findet normalerweise ganz woanders statt: Nicht am Gymnasium, sondern überwiegend in Haupt- oder Förderschulen; nicht im beschaulichen Meißen, sondern an den sozialen und kulturellen Brennpunkt von Großstadtschulen; ganz selten auch sind die Lehrer direkte Opfer der Gewalt, allenfalls mal werden die Pauker in Händel auf dem Schulhof verstrickt. Andererseits sind sich die Forscher einig: Das Täterprofil, der Ort des Geschehens und selbst das Opfer können als typisch für eine bestimmte Form der Gewalt in der Schule angesehen werden.
Bei einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Untersuchung haben Wolfgang Melzer von der Technischen Universität Dresden und der Bielefelder Forscher Klaus-Jürgen Tillmann einen erstaunlichen Vergleich angestellt. „Gewalt in der Schule“ ist in all ihren Erscheinungsformen im Westen stärker ausgeprägt als im Osten – außer in einem Bereich: der Gewalt gegen Lehrer. Die Schulkultur, also das Verhältnis und vor allem der Umgang zwischen den Lehrern und ihren Zöglingen, ist im Osten eine andere. „Lehrer werden in der ehemaligen DDR nicht automatisch als Respektspersonen angesehen“, berichtet die Berliner Schulgewerkschafterin Sanem Kleff. Dazu sind Ost-Pauker seit der Wende öffentlich zu sehr in die Kritik geraten.
Bei genauerem Hinsehen muss auch der Tatort Gymnasium nicht verwundern. Zwar „gehen Gymnasiasten im allgemeinen zivilisierter miteinander um“, berichtet der Dresdener Erziehungswissenschaftler Melzer. Aber der Leistungsdruck ist in der Penne größer – bei manchen Schüler stellt sich schnell das Gefühl von Überforderung ein. Und damit werden gerade die Angehörigen einer bestimmte Gruppe manchmal nicht fertig: Werdende Männer im Alter von 13 bis 17 Jahren, die sich zurückgesetzt fühlen, die scheinbar oder tatsächlich keinen Erfolg auf der sozialen Bühne erringen.
Nicht nur in der Forschung sind pubertierende Heranwachsende, die Mühe haben, ihre soziale Position zu erringen und dann in seltenen Fällen zu Gewalttätern werden, durchaus bekannt – allerdings als Selbstmörder. Möglicherweise führt nun ein Phänomen dazu, dass sich deren gewalttätige Bewältigung ihres Selbstvertrauens auch nach außen richten kann. Das ist die Nachahmung des medialen, des inszenierten Horrors.
Medienwirkungsforscher wie der Münchner Fred Schell haben zwar große Zweifel, dass Jugendliche medial konsumierte Handlungen „einfach imitieren“. Aber als Risikofaktor ist der Medienkonsum ganz unbestritten. Wenn im realen Leben der Kids Gewalt auftritt, dann kann sie mit den am Videogame antrainierten Methoden beantwortet werden.
In Meißen fehlte bloß, resümiert Wolfgang Melzer, dass der Junge „einen Fernsehsender angerufen hätte, ehe er zur Tat schritt“.
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