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Paris – Dakar, alternativ

Hermann Bammel fährt wieder Trecker. 1979 gegen Atommüll in Gorleben, 1999 gegen Atomstrom in Deutschland  ■   Von Heike Haarhoff

Florian Kinner und sein Trecker sind die ersten auf dem Schützenplatz in Lüchow. Er klettert aus der Kabine, wirft prüfende Blicke auf die mannshohen Reifen, die heute 200 Kilometer Asphalt machen sollen. Kurz vor sieben. Normalerweise hat Florian Kinner um diese Zeit längst daheim auf dem Hof die Bullen gefüttert.

Ein dumpfes Tuckern. Dann biegen sie um die Ecke: Drei, acht, fünfzehn, dreißig Trecker, achtundfünfzig, neunundsiebzig, Florian Kinner hat Mühe mitzuzählen und zugleich die Ankommenden zu begrüßen, Strucki, hey!, Wolfgang, moin!, Bobby, Mensch! Die lenken stolze Gefährte, mehr industriellen Zugmaschinen nachempfunden denn den malerischen Heuwägelchen in Kinderbüchern. Aus gutem Grund: Nur die „Schnelläufer“, also Trecker mit mindestens 40 PS, werden gen Berlin rollen. Auf klapprigen, unbeheizten Traktoren, die 1979 in Hannover bei der ersten Protestfahrt der Wendländer Bauern gegen das Atommüllager Gorleben noch das Bild prägten, mag heute kein Bauer mehr zittern. Von wegen romantisches Wendland. Immerhin dürfen die alten Schätzchen auf Hänger geladen mitkommen, für später, für die Parade.

Der Schützenplatz gleicht einem Camp alternativer Paris – Dakar-Fahrer. Routenerfahrung wird ausgetauscht, die Ursache für den letzten Platten diskutiert, die modernere Gangschaltung verteidigt. Um Atompolitik, die Enttäuschung über Rot-Grün und die Angst vor einem neuen Castor geht es nicht. Noch nicht. Nur die grünen Fahnen auf den Kühlerhauben, auf denen orange die Wendlandsonne lacht, die „Tag X“-Poster hinter den Scheiben und die warnenden Schilder an den Hängerwänden erinnern an den eigentlichen Grund des Trecks: „Gestern schwarz, heute grün-rot, morgen kommt der Strahlentod“ – „Fällt der Bauer tot vom Traktor, ist in der Nähe ein Reaktor“.

Endlich findet sich auch Hermann Bammel, 59, ein. Sein John Deere hat 130 PS, und „jedes PS kostet so 1.000 Mark“. Klar, dass er den Treck anführen wird. Vom Lautsprecherwagen gibt er die Aufstellung für die inzwischen rund 100 versammelten Trecker bekannt. Aber dazu kommt es erstmal nicht. „Ich mach das nicht mit“, schimpft eine rothaarige Frau, und langjährige Demoerfahrung hallt in ihrer Stimme. „Susanne“, versucht ein Umstehender sie zu beruhigen. Aber Susanne, die sich als „Kamin, Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg“ vorstellt, will sich nicht beruhigen: „Hier aufladen, und dann in Berlin draufsitzen wollen!“ Mit dieser Bitte sei die ehemalige grüne Europaabgeordnete Undine von Blottnitz an sie herangetreten. Ausgerechnet eine Grüne, auf deren Partei man im Wendland dieser Tage gar nicht gut zu sprechen ist.

„Das ist eben kein Kommandounternehmen“, sagt Hermann Bammel, schwingt seinen 1,90-Meter-Körper hinters Steuer und gibt Gas. Kurz nach acht. 30 Stundenkilometer würde er schon gern als Tempo vorgeben, da könnten auch alle mithalten, sagt er, aber dummerweise ist da dieses Polizeiauto vor ihm, und so stagniert Hermann Bammels Tacho bei 20 km/h. Er brummelt: „Junge, wir wollen doch vorwärts kommen.“ Kurze Zeit später kann es ihm gar nicht langsam genug gehen. Eine Baumreihe am Straßenrand, dahinter ein Stoppelfeld im Nebel. „Da“, Hermann Bammels Hand deutet auf eine Stelle im Nichts, „da könnte es sein, dass sie den nächsten Castor abladen.“ Die Gerüchte sind längst durchgesickert, dass es voraussichtlich im nächsten Frühjahr nach zweijähriger Pause wieder einen Castor-Transport nach Gorleben geben wird. Diesmal zur Verwirrung der Atomkraftgegner über eine geänderte Streckenführung – via Arendsee. Seit das bekannt ist, hat Bammel das Gebiet mehrfach inspiziert; nun glaubt er zu wissen, wohin er am Tag X seinen Trecker lenken wird „zum Blockieren“. Er sagt das, als erkläre er einem Städter, dass man im Frühjahr säen muss, will man im Herbst ernten.

Und in gewisser Weise ist die ständige Bereitschaft, gegen den Castor auf die Straße zu ziehen, sich Reifen durchstechen und im Zweifel verprügeln zu lassen, ja auch Gewohnheit. Eine bewusste Entscheidung, „in den Widerstand zu gehen“, sagt er und lacht wie über den Pathos der eigenen Worte, hat es nie gegeben. Hermann Bammel kann sich nicht daran erinnern: „Das passiert einem, ohne dass man darauf Einfluss hat“ – ihm vor 22 Jahren: Da benannte der damalige CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, den Salzstock von Gorleben im strukturschwachen Zonenrandgebiet als Endlager für Deutschlands atomaren Schrott. Auch eine Anlage zum Recycling des radioaktiven Gefahrenguts sollte es geben, wenige Kilometer vom Dorf Clenze entfernt, und das ließ den Clenzer Hermann Bammel, Landwirt, CDU-Wähler und Vater von drei Kindern, auf-horchen: auf die Debatten über die Gefahren der Atomkraft, die in den Städten geführt wurden. Er zweifelte, lernte, fürchtete und wusste irgendwann: Die Lösung konnte nur Bleiben heißen. Sein Leben konnte er schließlich nicht woanders verdienen: Land lässt sich nicht evakuieren.

Das Funkgerät piept. Es ist Kollege Bobby: Die Polizei poche auf die Straßenverkehrsordnung. An roten Ampeln halten. Vorfahrt achten. Das Ende eines zusammenhängenden Konvois also. Was nun? „Ja, das interessiert uns natürlich nicht. Wenn die Kreuzung gesperrt ist, fahren wir trotzdem drüber“, ruft Hermann Bammel, schaltet das Funkgerät umsichtig aus und fährt fröhlich weiter.

Die sture Gelassenheit kam mit den Jahren. 1979 drohten die Bauern „Albrecht, wir kommen“ und mit ihnen mehr als 100.000 Atomkraftgegner aus der ganzen Republik, und Hermann Bammel, der damals einen riesigen Findling heimlich nach Hannover transportierte und in der Innenstadt ablud, glaubte sich am Ziel: Ernst Albrecht knickte ein. Das atomare Großprojekt sei „sachlich richtig, aber politisch nicht durchsetzbar“. Was blieb, war der Plan für ein Zwischenlager und ein ehemaliger Ministerpräsident, der bis heute „keine Interviews dazu gibt“. Geschweige denn einen Ratschlag in Sachen Atompolitik an seinen Nachfolger Gerhard Schröder. Der verteidigte die Bauern erst als Anwalt, brachte es 1990 mit ihren Stimmen zum Ministerpräsidenten, acht Jahre später zum Bundeskanzler und blockiert nun den Ausstieg. „Gerhard, wir kommen“, heißt es nun. Albrecht immerhin wurde noch gesiezt.

Mittags endlich eine Pause. „Mich interessieren nur noch Taten“, verkündet Wolfgang Ehmke, der Sprecher der Bürgerinitiative. „Und ich lasse mich nicht davon abhalten, gegen eine Regierung auf die Straße zu gehen, die ich gewählt habe.“ Und wenn der Erfolg von 1979 sich diesmal nicht einstellt? Ehmke scheint fast damit zu rechnen: „Geschichte wiederholt sich nicht.“

„37, 38, 40“, jubelt Hermann Bammel mit Blick auf den Tacho. Die Aussicht, bald in Berlin einzutreffen, beflügelt auch seine Erzählungen. Sie gehen um den Tag, als er mit 20 anderen über die Bahngleise marschierte und mehrere ICEs zum Halten zwang. Nein, eine Hakenkralle habe er nie geworfen. Würde er solche Täter kennen, er zeigte sie mit Sicherheit nicht an. Oder die riskante Aktion, wie sie damals, 95 oder 96, die Straße unterhöhlten und sich anschließend mit ihren Treckern in eine Scheune flüchteten in der Nacht, bevor der Castor kam. Und wie er dann vom Trecker gezerrt und von der Polizei gefesselt wurde, nur weil er sich weigerte, seinen Trecker aus dem Weg zu räumen. Oder neulich diese Begegnung mit Trittin, dem Bundesumweltminister. Da hat Hermann Bammel es mit der Sicherheit gewusst, mit der Bauern gewöhnlich Wetteränderungen vorhersagen: „Im Grunde haben wir keinen mehr, den wir wählen können, und zu dem wir Vertrauen haben.“

Kurz nach 17 Uhr, der ehemalige Grenzübergang Berlin-Spandau. Der Empfang ist unterkühlt: „Wir sind die Berliner Polizei, wir müssen jeden Trecker nach Waffen untersuchen.“ Alle müssen aussteigen. Eineinhalb Stunden Warterei. Dann endlich Weiterfahrt im Schrittempo zum Olympiastadion, wo die kleinen Trecker abgeladen werden. Die Bauern werden erneut gefilzt wie Schwerverbrecher – und die Polizei wird tatsächlich fündig: „Kartoffeln oof dem Hänger, det is nich drin.“

Samstagmittag. Hier wollte er hin. Tausende Menschen, 120 Traktoren ziehen durch die Berliner Innenstadt. Doch ab dem Brandenburger Tor hat Hermann Bammel kein Auge mehr für die Menschen und Gebäude außerhalb seiner Treckerkabine. Nicht für die altehrwürdige Humboldt-Uni, nicht für den Palast der Republik. Und auch nicht für Rebecca Harms, die grüne Fraktionschefin aus Niedersachsen, die sich unter die Demonstrierenden gemischt und Mühe hat, zu erklären, dass sie hier und heute mit den Bauern für den Ausstieg demonstriert, obwohl sie nicht komplett gegen die Bundesregierung ist.

Hermann Bammel hat Wichtigeres zu tun, auf seinem Lenkrad breitet er zwei eng beschriebene Zettel aus. Es ist seine Rede, die er als Vertreter der Bauern gleich bei der Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz halten wird. Er deutet auf seinen Magen. Der ist mindestens genauso aufgeregt wie er.

Hermann Bammel parkt den Trecker, klettert auf die Bühne. Er erzählt von den grünen Hügeln des Wendlands und den Feldern, die er weiterhin bestellen möchte, ohne dass ihm täglich radioaktive Gefahr droht. Also Widerstand. Dabei kann man sich schon mal verhaspeln. „Ich bin schon mit dem Rücken auf den Händen gefesselt worden.“

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