Krieg der Zeichen

Wildstyles & Wholetrains: Die Stadt als imaginäre Leinwand. Ein Rundgang  ■ Von Anna von Villiez

Verkehrte Welt: Was sonst in Hamburg als Schmiererei und Sachbeschädigung verteufelt wird hat es vor ein paar Wochen ins Guinessbuch der Rekorde geschafft. Den zeigerfingergleichen Kirchturm am Kurt-Adams-Platz in Lohbrügge ziert ein Graffiti von überdimensionaler Größe. Mehrere Monate lang gingen die Graffiti-Künstler Heiko Zahlmann (Daddy Cool) und Sascha Siebdrat (Vaine) mit den von Bahnbeamten und Sonderkommandos gefürchteten Sprühdosen an dem Turm zu Werke, bis schließlich das welthöchste Graffiti von 36 Meter Höhe entstanden war. Graffiti gehört in Hamburg inzwischen schon seit 15 Jahren zum Stadtbild. Anfang der 80er Jahre fuhren die ersten verschönerten Züge durch New York und bald danach griffen auch in Europa die ersten Writer zur Dose. Bild um Bild wurde der öffentliche Raum durch die Farbpiraten erobert. Und noch etwas später entstand auch die Soko „Graffiti“, die die „krankhafte Sachbeschädigung“ wieder unterbinden sollte.

Legal oder illegal ist letztlich egal: Graffiti hat sich trotz der – oder gerade: durch die – Kriminalisierung zu einem grafischen Zeichensystem entwickelt, das unübertünchbar auf den Wänden Hamburgs weiter seine eigene Kunstgeschichte schreibt. Als Kommunikationsform ist Graffiti zuerst die sich unaufhörlich neu artikulierende Bildersprache einer Szene , in der man sich durch ein gutes Bild Ruhm und Respekt ermalt. „Die kraftgeschwollenen Buchstaben drängten ineinander, suchten sich aber auch gegenseitig zu übertrumpfen, einer schob sich vor den anderen, sie waren wie Menschen“, heißt es in Stan Nadolnys Ein Gott der Frechheit.

Ob Graffiti nun Kunst ist, liegt wohl allein im Auge des Betrachters – und in dessen Dressurmechnismen. In New York fand Graffiti den Weg in die Galerien und wurde zeitweise zum lukrativen Gewerbe für die Sprüher. Einer derartigen Beliebtheit in der Kunstwelt erfreuen sich Wholetrains,Throw-Ups und Tags hierzulande eher selten. Die Hochbahn gibt jährlich Millionen für die Beseitigung der farbexplosiven Vergehen aus.

Genauso paradox mutet es an, dass Graffiti als Ausdruck jugendlicher Kühnheit gleichzeitig von Design und Werbung hofiert wird. So wird das Medienhaus an der Beringstraße zum Beispiel von einer äußerst sehenswerten Komposition geziert, an der auch der Hamburger Graffiti-Altmeister Mirko Reisser Hand anlegte, der mit Heiko Zahlmann zusammen die Agentur getting up leitet. Zum Verhältnis zwischen Sprayern und etablierten Galerien sagt der in Zürich studierte Freie Künstler nur: „Graffiti hat so viel Kraft als Bewegung. Was ist davor schon Kunst geworden, was vorher als Zerstörung galt? Die haben blanke Angst, dass wir denen was wegnehmen wollen.“

Durch Graffiti wird die Stadt zur imaginären Großleinwand, auf die Writer ihre Codesprache projizieren. Die Mauer zwischen den S-Bahnhöfen Sternschanze und Holstenstraße zieren Graffiti der Langgedienten wie von Gastsprühern aus Berlin und anderswo. Eine hall of fame, könnte man diese Stelle fast schon nenen. Die klassischen Wild Styles mit den bis zur Unkenntlichkeit verschachtelten Lettern zwingen zur sinnlichen Wahrnehmung, die das Auge durch einen Schnellkurs in visuellen Angriffstechniken führen. Daneben prangen neuartige Ensembles – meist schlicht Illstyles genannt –, die mit hypnotisch, wie im Delirium verzerrten Schriftzügen die Gesetze der Perspektive in die nächsten Dimension führen.

Da, was ein rechter Sprüher ist, niemals übersprüht, was die eigene Kunstfertigkeit übertrifft, sind die schönsten Bilder zu bewundern, wo sich die meisten tummeln. Der Bunker hinter der Roten Flora ist so eine Wechselgalerie, die ihr Gesicht fast täglich ändert. Doch die Möglichkeiten legal zu sprühen, werden immer rarer, da so manche ehemals legal besprühbare Flächen schließlich wieder illegalisiert wurde.

Die meisten Wände haben „Crews“ – Sprühergruppen – zum Sprühen freigegeben bekommen. Flächen, wo jeder mal darf, gibt es nicht mehr in Hamburg. Da bleibt dem Liebhaber nur das S-Bahnfahren. Die Linie S1 zum Beispiel führt auf dem Weg nach Barmbek an so manchem bunten Bild vorbei.

Das einzig verbliebene legale Sprühereldorado sind derzeit die Alsen Betonwerke in Itzehoe. Die vormals bunte Kampnagelfabrik verzichtet im frischrenovierten Gewand lieber auf Farbanarchie. Graffiti-Künstler Daim hat dafür auf einer Web Page eine virtuelle Graffiti-Galerie geschaffen, in der die oft real kurzlebigen Werke archiviert sind (www.double-h.org und www.daim.org). So wird der öffentliche Hyperraum durch die Sprühkunst erobert, ohne dass die Soko zuschlagen könnte.