: Die Sache mit der Ehre
■ Jugendliche aus Blumenthal haben „Romeo und Julia“ einstudiert. Die Dokumentarfilmerin Dagmar Gellert war dabei. Es entstand „Ehrensache“ – ein Film über die Schwierigkeiten des Lebens in mehreren Kulturen
Warum eigentlich „Ehrensache“? Wäre ein Titel wie „Romeo und Julia auf der Lüssumer Heide“ nicht viel angemessener? Denn auf den ersten Blick ging es genau darum, als die Bremer Filmemacherin Dagmar Gellert sich aufmachte und ungewöhnliche Probearbeiten des Stückes von Shakespeare mit der Kamera begleitete.
Unter der Leitung der ehemaligen Hausregisseurin am Bremer Schauspielhaus, Christina Friedrich, studierte eine Gruppe Jugendlicher aus einem so genannten Problemstadtteil in Blumenthal im Vegesacker Kulturbahnhof „Romeo und Julia“ ein. Aber schon sehr früh im Film fällt dieses Wort „Ehre“. Und für die mehrheitlich türkischen Jungen in der Clique hat es eine so überwältigende Bedeutung, dass Dagmar Gellert mit der Neugier und dem sicheren Instinkt guter DokumentarfilmerInnen für den Rest des Films den Fokus auf dieses Thema lenkte. Das Theaterprojekt selbst sah sie eher als Auslöser und begleitete es quasi nebenbei.
Seltsamerweise ist es Christina Friedrich, die als eine der Ersten von der „Ehre“ spricht, bei der man die Jugendlichen „packen“ muss. Erst dann würden sie engagiert am Theaterprojekt mitarbeiten. Aber der traditionelle Ehrbegriff ihrer Kultur wirft die jungen Türken in tiefe Widersprüche. Dies wird schnell klar, als die „Schlägertypen“ (so nennt sich einer selbst) vor der Kamera von den Verhältnissen daheim berichten. Vor dem Vater würde sich nie einer der Söhne eine Fluppe anstecken, auch wenn das Familienoberhaupt selbst raucht. Ein anderer Junge hat eine tiefe Angst vor dem Verstoß durch die Familie. Alle wollen sie gute Moslems sein, und haben deutsche Freundinnen, denn mit denen können sie machen, was sie ihren Schwestern nie erlauben würden.
So spielen in dem Theaterprojekt nur deutsche Mädchen mit, und auch Dagmar Gellert macht im ersten Teil des Films nur mit ihnen Interviews. Türkische Mädchen bleiben unsichtbar. Erst als die Filmemacherin Ali, den Romeo des Stücks, bei seiner Ferienreise nach Izmir begleitet, spricht sie dort auch mit den Frauen der Familie. Die sagen so enthüllende Statements wie „Ich kann mich doch nicht scheiden lassen, nur weil ich geschlagen werde“ in die Kamera.
Solche Äußerungen machen diesen Film so fesselnd und interessant. Dagmar Gellert will keine Filmkunst machen. Die Kamera wird immer solide draufgehalten; das „Was“ ist ihr offensichtlich wichtiger als das „Wie“. Ihr großes Talent besteht darin, dass ihre InterviewpartnerInnen vor der Kamera offen reden. Oft hört man aus dem Off noch ihre (immer genaue und sehr direkte) Frage, und die Antworten treffen (gerade bei den Jugendlichen, die sich nur mit großen Schwierigkeiten artikulieren können) genau den Kern.
Es ist nicht immer schön, was man da hört. Ein Junge berichtet wie selbstverständlich, der Vorteil von türkischen Mädchen sei, dass man sie besser einschüchtern und schlagen könne. Und die rassis-tischste Äußerung über die Türken kommt ausgerechnet aus dem Mund des Vorbeters einer Bremer Moschee. Der sagt, die türkischen Männer seien alle arrogant, träge und rückständig.
Dagmar Gellert montiert ihre Interviews so raffiniert und enthüllend, dass der Film keinen eigenen Kommentar mehr braucht. Sie arbeitet hier nach der gleichen Methode wie schon in ihrem ersten Film „Torfsturm“ über junge Rechtsradikale in Findorff: Sie lässt die Leute reden – und das Publikum selbst denken. Die Montage ist ihr Kommentar – auch bei den Protagonisten. So lässt sie die jungen Türken direkt vor der Kamera türkenfeindliche Gags machen. Oder sie geht mit ihnen in einen Autoladen mit Luxuskarossen, wo sie ihre Träume schildern. Schließlich lässt sie Ali und Jessica, die realen „Romeo und Julia“ des Films, – etwas häufig – verliebt durch die Landschaft laufen.
Sehr klug war es dagegen, dass sie nicht „nach dem Happy-End abgeblend“ hat und die Kamera die Jugendlichen auch nach der Theaterpremiere begleitet. Denn das Resultat ist ernüchternd: Einer der Akteure hat seine Lehrstelle verloren (die Eltern sagen sogar wegen der vielen Proben), ein anderer wurde in der Schule verhaftet, und offenbar hat sich bei keinem durch dieses Projekt Wesentliches verändert. Nur Jessica und Ali sind noch immer einer Paar.
Die Sache mit der „Ehre“ konnte Dagmar Gellert während der rund 24 Monate, in denen sie ihren Film drehte, nicht völlig ausloten. Der schon fast scholastischen Komplexität des Problems widmet sie sich am Ende des Films: Da demonstriert die Clique mit Transparenten auf der Straße, weil der Vater eines türkischen Mädchens bei einer Gerichtsverhandlung in Bremen den Mann erschoss, der angeblich seine Tochter vergewaltigt hatte. Aber sie demonstrieren nicht etwa gegen die Bluttat an sich, sondern deswegen, weil der Vater in ihren Augen nicht richtig auf die Famile aufgepasst hatte. „Ehrensache!“
Wilfried Hippen
„Ehrensache“ läuft täglich bis Dienstag um 20.30 Uhr im Kino 46
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen