piwik no script img

"Hier Russin, dort Jüdin"

■ Jerzy Kanal und Barbara John stellten eine Broschüre über die jüdischen ZuwandrerInnen aus Osteuropa vor. In den letzten fünf Jahren kamen rund 5.000

„Ich fühle mich hier genauso jüdisch wie in Rußland, es ist nur etwas komisch: Hier werde ich als Russin angesprochen, und in Rußland wurde ich immer als Jüdin angesprochen.“ Das sagt Galya, eine von rund 5.000 jüdischen ZuwandrerInnen aus Osteuropa, die in den letzten fünf Jahren nach Berlin kamen. Sie bringt das Dilemma vieler dieser EinwandrerInnen auf den Punkt: die Schwierigkeit, eine neue Identität zu finden.

Das Zitat ist einer neuen Broschüre entnommen, „Von Aizenberg bis Zaidelman“, die das Leben dieser Zugewanderten thematisiert. Jerzy Kanal, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, und die Ausländerbeauftragte Barbara John stellten das Heft gestern vor. Der Zuwachs habe die Gemeinde auf jetzt rund 10.000 Mitglieder vergrößert, so Kanal. Berlin habe damit nicht nur die größte jüdische Gemeinde in Deutschland, sondern auch den größten Anteil an osteuropäischen JüdInnen. Das sei „Freude, aber auch Sorge und Verpflichtung“: Sorge um die Integration von Menschen, die Wohnung und Arbeit und eine neue Identität erst mühsam finden müssen. „Viele waren Akademiker, aber ihre Abschlüsse nützen ihnen hier nichts“, berichtete Jerzy Kanal. „Es ist eine frustrierende Erfahrung, vom Chefarzt zum Hilfsarbeiter zu werden.“

Dennoch ziehe Berlin die jüdischen ZuwandrerInnen „wie ein Magnet“ an, meinte Barbara John. Rund 29.000 sind nach Deutschland gekommen, davon 5.000 nach Berlin, seit die letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière die Aufnahme von jüdischen Kontingentflüchtlingen ermöglichte und die Bundesregierung diese Regelung übernahm. Die Auswanderungswilligen müssen bei den deutschen Konsulaten in ihren Heimatländern einen Antrag stellen, wobei mancherorts die Mafia teure „Eintrittskarten“ verlangt. Das Landesverwaltungsamt in Köln prüft daraufhin, ob die Betreffenden die Kriterien für Kontingentflüchtlinge erfüllen, und erteilt nach ein- bis zweijähriger Wartezeit dann die Einreiseerlaubnis.

Berlin sollte eigentlich nur 2,3 Prozent dieser Flüchtlinge aufnehmen, berichtete die Ausländerbeauftragte. Es habe seine Quote aber schon mehr als übererfüllt, während beispielsweise Nordrhein-Westfalen mit seiner Quote von 22 Prozent viel weniger ZuwandrerInnen aufgenommen habe als vorgesehen.

Daß jüdische MigrantInnen ähnlich wie manche Asylsuchenden aus den östlichen Bundesländern hierher flüchten, hat seine Gründe: Hier können sie mit anderen Familienmitgliedern zusammenleben und an der neuentstehenden jüdischen Kultur teilnehmen. In Potsdam oder Sachsen- Anhalt „gibt es keine Synagogen oder jüdischen Schulen“, so John. In der Hauptstadt aber ist die Anzahl der jüdischen Einrichtungen in den letzten Jahren stetig gestiegen. Nicht zufällig, so Heft-Autorin Judith Kessler, prange auf der Titelseite der Broschüre ein Bild der noch eingerüsteten Neuen Synagoge. Beides, das Gebäude und die gesamte jüdische Gemeinschaft, sei noch „im Bau und kann auch nur teilweise in seiner ursprünglichen Gestalt wiederentstehen“. Ute Scheub

Gegen zwei Mark Schutzgebühr kann das Heft bei der Ausländerbeauftragten, Potsdamer Str. 65, 10785 Berlin, erworben werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen