Zu früh zu sauber macht krank

Studien zeigen Zusammenhang zwischen Allergieanfälligkeit und Antibiotika-Anwendung bei Kleinkindern. Impfungen teilweise rehabilitiert  ■   Aus Stockholm Reinhard Wolff

Kinder wissen das schon immer ganz instinktiv: Zu viel Seife schadet, und Sauberkeit macht krank. Wird der Körper nicht von den ersten schwankenden Kindesbeinen an einem stetigen kräftigen Bakterienbeschuss ausgesetzt, reagiert er mit den unterschiedlichsten Allergien. Wissenschaftlich ausgedrückt: Das Immunsystem muss „orale Toleranz“ lernen, nämlich die Fähigkeit des körperlichen Immunsystems, auf ungefährliche Außenangriffe, denen wir stetig ausgesetzt sind, gerade nicht zu reagieren.

Zwei neue Studien, eine aus England, die andere aus Neuseeland, beide erstmals beim jährlichen Ärztekongress in Stockholm Ende der vergangenen Woche präsentiert, lassen einen klaren Zusammenhang zwischen solch schädlichem Bakterienschirm und späterer Allergiebereitschaft erkennen. Gemeinsames Ergebnis: Antibiotikagaben vor dem ersten Geburtstag vervierfachen die spätere Bereitschaft des Körpers für Allergien aller Art.

Erst bei mehr als vier Jahre alten Kindern vermochten die ForscherInnen keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Penicillin und späterem Heuschnupfen bzw. Asthma und Allergien mehr festzustellen. Professor Örjan Strannegård, der die Forschungsergebnisse präsentierte: „Vermeiden Sie unbedingt, einem nicht einmal einjährigem Kind Antibiotika zu verabreichen. Es sei denn, es ist wirklich absolut zwingend.“

Auch die Tatsache, dass es die industrialisierten Länder sind, die so explosionsartig von Allergien überzogen wurden und werden, schieben die Studien auf ein Zuviel an Bakterienbekämpfung. Ihre Hypothese: Bessere Hygiene habe ein kräftig geändertes Infektionspanorama und eine ebenfalls veränderte Darmflora schon bei Neugeborenen zur Folge. Ausgehend davon lässt sich eine noch gesteigerte Fehlalarmanfälligkeit des Immunsystems schon anhand relativ geringer Unterschiede bei der Öffnungsweite der Hygiene-Käseglocke feststellen: Kinder mit zeitigem Kindergartenbesuch sind weniger allergieanfällig, ebenso solche, die größere Geschwister haben, welche mit ihrer nach Hause gebrachten Mikrobenlast sehr gesundheitsfördernd wirken.

Was auch die neuen Studien noch nicht nachgewiesen haben, ist die Frage, ob es vielleicht ein spezieller Virus, eine spezielle Bakterie oder ein anderer Umwelteinfluss ist, der dem auf der Schulbank schwitzenden körperlichen Immunsystem keinesfalls vorenthalten werden darf. Klar ist nur, dass Antibiotika diesen „Faktor X“ auf jeden Fall mit einiger Treffsicherheit ausrotten. Impfungen sollen im Übrigen nach diesen Erkenntnissen – es gibt aber auch dem widersprechende Studien – keine ähnlich negativen Wirkungen auf die Lernfähigkeit des Immunsystems haben. Im Gegenteil wurde die Impfung gegen Keuchhusten auch vom Allergiegesichtspunkt her rehabilitiert: Gegen Keuchhusten geimpfte Kinder erwiesen sich als weniger asthmanfällig als nicht geimpfte Kinder, und bei der Allergieanfälligkeit gab es keine Unterschiede.