: Fliegenpilz-Flagge
Künstler helfen Russland bei der Suche nach nationaler Identität: „Neues Moskau“ in der ifa-Galerie ■ Von Katrin Bettina Müller
Zar Tüpfel ist alt. In der Zeit seiner Regentschaft beginnen russische Märchen. Sein Reich schirmt der Fliegenpilz, der deshalb auf keinem Kinderspielplatz Russlands fehlt. Da nun Historiker, Touristenmanager und Bürgermeister die vorsowjetische Geschichte ständig auf der Suche nach Material durchkämmen, das für eine neue Selbstdarstellung verwertbar ist, hatte Andrei Chlobystin aus St. Petersburg eine prima Idee: das Fliegenpilzmuster als Flagge für Russland. „Die neue Flagge versöhnt das gemeinschaftliche Prinzip des roten Hintergrunds mit dem individualistischen des weißen Motivs (...)“, schrieb er in der Begründung.
Tatsächlich beweist seine Sammlung getupfter Gebrauchsgegenstände, dass weiße Punkte auf rotem Grund beliebt sind, zieren sie doch Tassen, Schirme, Tücher und Blusen. Er stützt seinen Vorschlag mit Umfrageergebnissen ab, die Rot noch immer als liebste Farbe der Russen ausweisen. Nicht zu vergessen das halluzinatorische Potential der Fliegenpilze, das einer Politik, deren Stärken mehr im Wünschen als in der Realisierung liegen, gute Dienste leisten könnte.
Noch ist es in Russland zu keiner Abstimmung über Chlobystins Vorschlag gekommen, da taucht er schon in der Berliner Galerie des Instituts für Auslandsbeziehungen als Gesandter des „Neuen Moskau“ auf. Eingeladen hat die Kuratorin Kathrin Becker unter diesem Titel fünf Künstler aus St. Petersburg und Moskau, die dem wiederkehrenden Zarenkult, nationaler Romantik und mystischer Spiritualität andere Lesarten der Vergangenheit entgegenhalten. Sie stecken einen großen Teil ihrer Energie in historische Analysen, die erstaunliche Kontinuitäten der russisch-sowjetischen Geschichte gerade dort zu Tage fördern, wo die offizielle Interpretation von Bruch und Neubestimmung ausgeht.
So hat sich Pavel Pepperstein von der Gruppe Medizinische Hermeneutik mit der psychedelischen Wiederkehr der Breschnew-Zeit in den Skulpturen von Zurab Tsereteli beschäftigt. Tsereteli ist wohl der bestbezahlte Bildhauer Moskaus, der Zaren und Drachentöter zu Pferd und zu Schiff in unübersehbarer Monumentalität in den letzten fünf Jahren in den Stadtraum geschickt hat, dank seines heißen Drahtes zu Bürgermeister Luschkow. (Tsereteli ist in der Ausstellung „Neues Moskau“ nur in Fotografien und im Katalog anwesend, logischerweise, weil von seinen Giganten aus dem öffentlichen Raum gerade mal ein Bein in die ifa-Galerie hinpassen würde.) Pepperstein findet nun heraus, dass die Skulpturen Russlands ebenso wie die Monumentalplastik der Sowjetunion eigentlich immer auf der unbewussten Voraussicht vom Sturz der Riesen basieren. So ist es kein Wunder, dass Tseretelis „Peter I.“ vierzig Meter hoch als Wachtposten vor jenem Park steht, in dem zuletzt die „Götzen“ der Sowjetmacht flachgelegt wurden.
Pepperstein seinerseits skizziert Vorschläge für Denkmäler, die das Genre karikieren, wie das nach allen Seiten zerfließende „Denkmal für jemanden mit sehr langem Haar“. In einem anderen Projekt sieht man einen Engel mit der Pistole auf einen Mafiosi schießen.
Dass sich die zeitgenössische Kunst mehr mit dem organisierten Verbrechen beschäftigen sollte, findet auch Vladislav Mamyshev. Die Probleme der Gegenwart kleidet er in seinen inszenierten Fotografien in die Märchenkostüme des 19. Jahrhunderts. Da wird die Hexe Baba-Jaga zur heroinsüchtigen Prostituierten. Noch lieber als die Bösen aber mag er die Guten und stilisiert mit ornamentalen Rahmen und Übermalungen die Bilder stillender Freundinnen zur katholischen und orthodoxen Madonna. Solch freundlicher Madonnenpop entzieht sich wahrscheinlich knapp der Schmerzgrenze der Gläubigen, die mit massenweise reproduzierten Ikonen einen Hunger nach Bildern unter Beweis stellen, der keine Ironisierung verkraftet.
Die Inkompatibilität ihrer Werke gegenüber dem westlichen Kunstsystem demonstrieren die russischen Künstler schon durch eine eigene Begrifflichkeit. So hält der Filmemacher Yevgeniy Yufit den neuen Erzählungen von „Großer Vergangenheit und billiger Wurst“ das „Nekro-Narrativ“ entgegen: Da zersetzt sich alles, die Logik der Erzählung, die großen Utopien und die Körper der Protagonisten sowieso. In der ifa-Galerie läuft sein Spielfilm „Silberköpfe“, der Sergej Eisenstein oder Fritz Lang an düsterer Expressivität in nichts nachsteht. In einem Bunker arbeiten Wissenschaftler an der Schaffung eines neuen Menschen, der aus der Synthese von Holz und Blut Helden stark wie Bäume hervorbringen soll. Da die Apparaturen des Experimentes an Vorrichtungen für das mittelalterliche Pfählen erinnern, ahnt man bald: Das gibt jede Menge Märtyrer, deren Bereitschaft zum „Opfern für die Zukunft“ in der wiederkehrenden Religiosität ebenso Konjunktur hat wie in den Appellen der Vergangenheit. Nur dass bei Yufit allein die Würmer, die die Leichen fressen, diese Zukunft erleben.
Neues Moskau, bis 9. 1. 2000, ifa-Galerie, Berlin. Weitere Stationen der Ausstellung sind die ifa-Galerien in Stuttgart (14. 4. – 28. 5. 2000) und Bonn (20. 6. – 5. 8. 2000). Katalog 22 DM.
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