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Die Urteile eines Verfassungsrichters

Es waren vor allem zwei Urteile, mit denen Verfassungsrichter Paul Kirchhof seinen schillernden Ruf begründete: Im Maastricht-Urteil 1993 versuchte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts der europäischen Integration eine Zwangsjacke zu verpassen.

Zum Anlass nahm das Gericht eine Verfassungsbeschwerde, die eigentlich gar nicht zulässig gewesen wäre. Dann begann der Senat den EU-Vertrag auszulegen, was gar nicht zu seinen Aufgaben gehört – sondern Sache des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ist.

Bei dieser Karlsruher Auslegung des Maastrichter Vertrages mutierte dann das für 1999 vorgeschriebene letztmögliche Eurostartdatum zur unverbindlichen „Zielvorgabe“, um eine Verschiebung zu erleichtern. Außerdem wurde der Bundesrepublik zugebilligt, sie könne aus der Währungsunion auch wieder aussteigen, obwohl diese im Vertrag als „unumkehrbar“ bezeichnet wird.

Gleichzeitig wurden dem Bundestag allerlei Obstruktionsmöglichkeiten aufgezeigt, von denen er aber letztlich keinen Gebrauch machte. Nachwirkungen hat allerdings der Konflikt mit dem EuGH, den Karlsruhe mit einem gezielten Falschzitat als zu europafreundlich brandmarkte. Das deutsche Verfassungsgericht nimmt für sich seither das letzte Wort in Europarechtsfragen in Anspruch – auch wenn eine politische Europäische Union so nicht funktionieren kann.

Dennoch hielt sich die Politik mit Kritik an den Tricks der Richter stark zurück. Zum einen war man froh, dass der Maastrichter Vertrag nicht ganz gestoppt worden war, zum anderen hätte jede Kritik so gewirkt, als ob man bei der Währungsunion Angst vor richterlicher Kontrolle hätte.

Diese Mischung aus Kompetenzanmaßung und Rechtsgaukelei kennzeichnet auch das Vermögenssteuerurteil aus dem Jahr 1995. Zu entscheiden war damals, ob Grundstücke bei der Steuer zu gut wegkommen, weil sie nach veralteten Einheitswerten bewertet werden. Im Ergebnis ordnete Karlsruhe eine Reform von Erbschafts- und Vermögenssteuer an und machte dem Gesetzgeber dabei gleich allerlei Vorgaben.

So müsse dem Bürger von seinem Vermögensertrag nach Betrachtung der Gesamtsteuerbelastung etwa die Hälfte verbleiben. Diesen Halbteilungsgrundsatz las Kirchhof ins Grundgesetz hinein. Aus der Aussage, Eigentum solle „zugleich“ auch der Allgemeinheit dienen, machte Kirchhof flugs ein begrenzendes „zu gleichen Teilen“.

Weit kam er aber nicht mit diesem Wortspiel. Der Bundesfinanzhof, das oberste deutsche Finanzgericht, erklärte den Halbteilungsgrundsatz erst neulich für unverbindlich. Nun wird Karlsruhe erneut entscheiden – und Kirchhof muss bei dieser Entscheidungsfindung zusehen. Denn zum Jahresende wird ihm die rote Gauklerrobe wieder weggenommen. chr

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