: Literatur als Ohrenschmaus
Dank der technischen Segnungen seit Gutenberg muss beim Autofahren oder Bügeln nicht mehr nur Musik gehört werden: Das Zauberwort heißt Hörbuch ■ Von Lars Klaaßen
Wer seinen Liebsten zu Weihnachten das gute Buch auf dem Gabentisch präsentiert, mag damit einerseits vielleicht geistigen Tiefgang demonstrieren, andererseits aber macht man sich mit solcherlei Geschenken schnell der Fantasielosigkeit verdächtig: Darf's beim nächsten Mal gleich eine Krawatte sein? Doch auch Literaturbeflissene können bei der Bescherung ihrer Leidenschaft frönen und zugleich den technischen Segnungen seit Gutenberg Rechnung tragen. Das Zauberwort heißt Hörbuch.
Ein Thomas Mann auf CD zum Beispiel verbindet das Odium des Klassikers mit der Hipness der Multimediawelt. In akustischer Form lässt Literatur sich zudem verbunden mit anderen Tätigkeiten en passant genießen: Während der Autofahrt oder beim Bügeln muss nicht nur Musik gehört werden. Laut Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel werden mit Audio-Büchern hierzulande jährlich rund 50 Millionen Mark umgesetzt. Die rund 4.000 Titel werden von etwa 150 Verlagen vertrieben.
Noch vor wenigen Jahren hatte das Hörbuch in Form von Langspielplatten und Musikkasssetten ein durch und durch piefiges Image. Das hat sich gründlich geändert. Heutzutage munkelt man in der Branche vom großen Boom. Nicht die Rentner mit Sehschwäche stellen die größte Käuferklientel gesprochener Literatur, Trendsetter sind vielmehr die unter 35-Jährigen. Zu diesem Ergebnis kam eine Umfrage des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels bereits vor drei Jahren.
Entscheidend ist allerdings die Frage, was denn gehört beziehungsweise in welcher Form die Literatur angeboten wird. Gerne werden gekürzte Fassungen bereits erfolgreicher Belletristik unters Volk geschmissen. Die Verleger gehen bei der Vertonung von Bestsellern kein großes Risiko ein. Der Münchner HörVerlag (DHV), 1993 von acht renommierten Buchverlegern gegründet, wirbt mit dem Slogan: „Keine Zeit zum Lesen, dann hören sie jetzt mal zu.“ Doch gekürzte Fassungen, die Martin Walsers „Ein springender Brunnen“ von über 400 gedruckten Seiten auf 146 Hörminuten eindampfen, sind nicht jedes Literaten Sache. Weiterhin beliebt ist nach wie vor Jostein Gaarders „Sofies Welt“. Der DHV verkaufte die 400 Minuten lange Hörspielversion allein in den ersten zehn Monaten 25.000-mal. Wer viel Zeit mitbringt, kann im breiten Hörbuchangebot allerdings auch auf stärkeren Tobak zurückgreifen, wie etwa Wolfram von Eschenbachs „Parzival'“. Das Epos wird über neun Stunden und vierzig Minuten nicht nur gelesen, sondern auch kommentiert.
Bei noch lebenden Autoren bietet sich eine große Zahl selbst gelesener Ausgaben an. Hier ist jedoch Vorsicht geboten: Viele dieser Aufnahmen wurden einfach bei Lesungen mitgeschnitten, was die Produktionskosten ebenso wie den Hörgenuss senkt. Eine kunstvoll inszenierte Geräuschkulisse hingegen hat die Künstlergruppe Guricht aus Halle einer Auswahl von Kafka-Texten unterlegt. „Der Geier. Kurzgeschichten von Franz Kafka“ hat allerdings schon zwei Jahre auf dem Buckel und dürfte im Kaufhausregal nur noch schwer aufzutreiben sein.
Eine Reihe betagter Produktionen wird derzeit bei Kiepert feilgeboten. Die Restbestände, zumeist nur auf MC erhältlich, wurden kräftig reduziert: Walter Kempowskis „Der Krieg geht zu Ende“ gibt's in Form von acht CDs für 49,95 statt bisher 163 Mark, Enzensberger liest eine Auswahl seiner Gedichte gar für 9,95 Mark. Um die feierliche Bescherung unter dem Tannenbaum aufzupeppen, empfiehlt sich ein Evergreen der Hörliteratur: der von Klaus Kinski gelesene Gedichtzyklus François Villons. Statt des sattsam bekannten „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ ist für das Fest der Nächstenliebe im Kreise der Verwandtschaft jedoch wohl ein passenderes Stück geboten: „In diesem Saft sollt ihr die Lästerzungen schmoren“.
Unter www.boersenblatt.net kann die monatliche Bestsellerliste des hr2 für Hörbücher eingesehen werden.
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