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Sie gibt ihm Fieber

In seinen „Pocahontas“-Büchern begibt sich Klaus Theweleit auf die Suche nach einem anderen Amerika  ■   Von Dirk Knipphals

Dass Klaus Theweleit auch aus knappen Texten ausladende Analysegebäude zimmern kann, hat er oft bewiesen. Nun hat er sich in dieser Disziplin selbst übertroffen. Bei zumindest einem der beiden neuen Bücher handelt es sich um eins dieser Bücher im Ziegelsteinformat, für die Theweleit geradezu prädestiniert zu sein scheint. Zusammen sind die nun also vorliegenden Bände I und IV des auf vier Teile angelegten „Pocahontas“-Komplexes immerhin 1.055 Seiten dick. Da hat man nach einigen Nebenwerken wieder was Gewichtiges in der Hand. Dennoch tut man dem Text nicht unbedingt unrecht, wenn man ihn als etwas ausufernde Recherche über eine einzelne Strophe und den Refrain eines einzigen Musikstücks begreift. Denn einerseits ist es, um das Mindeste zu sagen, durchaus mal wieder erstaunlich, was Theweleit alles an Materialien aufgefahren hat. Andererseits spielt an zentraler Stelle im Untergrund des Textes vor allem eine Frauenstimme die Rolle, die über ein Liebespaar singt.

Und zwar handelt es sich um die Verse: Captain Smith and Pocahontas / Had a very mad affair / When her daddy tried to kill him / She said „Daddy-oh, do-on't you dare!“ / He gives me fever! / Fever with his kisses, / Fever when he holds me tight. / Fever! I'm his Missus, / Oh Daddy won't you treat him right. Die Zeilen stammen aus dem Song „Fever“; Peggy Lee hatte mit diesem von ihr gecoverten Soulstück, dem sie die Verse hinzutextete, 1958 einen Riesenhit (die Elvis-Aufnahme kommt später). Gehört hat Klaus Theweleit den Song nach der Schule in Glückstadt an der Elbe, wenn er nach Hause gegangen war bzw. – eine dieser überfallartig einen Zusammenhang klarmachenden Theweleit-Wendungen – „home, was ein Plattenspieler war“. Kürzer kann man die Bedeutung der Musik für diese Adoleszenz wohl kaum ausdrücken.

Und zugleich bildet dieser Song das gar nicht mal so heimliche Zentrum der neuen Bücher. Die Jugenderinnerung treibt, wie Theweleit an einer Stelle selbst verdeutlicht, den biografischen Motor an, der hinter der Recherche- und Formulierungsarbeit gewirkt hat. Pocahontas, der Name dieser Indianerin, die im Jahre 1607 den Weißen John Smith gerettet hat, indem sie sich zwischen den Mann und das bereits fallende Beil warf, wird Theweleit fortan zum Zauberwort. Für den Pubertierenden gerinnt es zum magischen Totem, um die Mädchen zu bannen, „die auf dem Schulhof die Schüler zum Wahnsinn trieben, mit Hula-Hoop-Reifen über schlanken Jeans und Mocassins an den Füßen“. Fünfzigerjahre-Backfische als Indianermädchen – es gibt wohl unsympathischere Männerfantasien. Wahrscheinlich ist „Pocahontas“ aufgrund dieser immerhin 40-jährigen libidinösen Besetzung Theweleits bislang lichtesten Buch geworden. Er setzt sich darin der hier zu Lande nicht übermäßig bekannten, in Amerika aber allgegenwärtigen Pocahontas-Legende auf die Spur – vom Walt-Disney-Film, der vor wenigen Jahren in die Kinos kam und in dem die Häuptlingstochter als „Öko-Poca aus Disney-Anmut und Political Correctness“ (Theweleit) eine gezeichnete Titelrolle hatte, über historische Darstellungen bis hin zu den Spuren, die diese historisch verbürgte Figur über den „Fever“-Song hinaus in der Massenkultur hinterließ. Zum üblichen umfangreichen Bildmaterial (das hier gelegentlich ins Pornografische spielt) und den Theweleit-Lesern bekannten Fußnoten am Ende der Seite sowie zusätzlich am Ende des Buches kommt diesmal noch, nicht immer schön, eine Vielzahl von Wiederholungen hinzu.

„You give me fever“, der vierte Band, ist eine eingehende Exegese von Arno Schmidts Kurzroman „Seelandschaft mit Pocahontas“ unter besonderer Berücksichtigung dessen bislang unterschätzter erotischer Qualitäten, die, so viel kann man nach der Lektüre sagen, in der Tat groß sind. Bei ihrer Beschreibung läuft Theweleit zu großer Form auf, wie ihm Arno Schmidt sowieso zusagt. Jedenfalls brennt er ein wahres Dechiffrierfeuerwerk ab, indem er die von Schmidt in den Text hineingeheimnisten Leerstellen mit realem Hintergrund füllt. Aber nicht allen seinen Folgerungen muss man folgen. Dass etwa die Erwachsenen in den Fünfzigern so beharrlich über Sex geschwiegen haben, damit die Jugendlichen umso mehr an ihn denken und so die Nazi-Vergangenheit ihrer Eltern vergessen, das ist möglicherweise eine Umdrehung zu weit gedreht.

Der erste Band aber, „Pocahontas in Wonderland“, ist breiter angelegt. Stellenweise zerfleddert das Buch geradezu. Aber über weite Strecken hält, über die jugendbewegte Fasziniertheit an der Pocahontas-Figur hinaus, etwas das Material zusammen: die Suche nach einem historischen Punkt, von dem aus die Geschichte anders hätte verlaufen können. Und die Sehnsucht nach einem anderen Amerika. Theweleit liest die Pocahontas-Legende als Kern einer zwar nicht verwirklichten, dann gar unterdrückten, aber doch möglich gewesenen Gegenhistorie.

Denn Pocahontas, die Häuptlingstochter, hat wirklich einen Weißen geheiratet, nicht, wie Peggy Lees Hit und auch der Disney-Film nahe legen, John Smith, den sie vor dem Tod rettete. Aber einen Mann namens John Rolfe, wie Smith ein Engländer. Pocahontas hatte einen Sohn mit Rolfe, war mit ihm zusammen in England, wo sie dann unter ungeklärten Umständen starb. Theweleit legt eine Vergiftung nahe, sagt aber selbst, dass das bloße Spekulation sei.

Eine Rote und ein Weißer, Theweleit spricht von einer „Intermarriage“. Und zumindest ein paar Monate lang, so entdeckt Theweleit nun weiter, scheint von offizieller Seite zumindest erwogen worden zu sein, die Kolonisierung Amerikas auf diesem Weg vorzunehmen: friedlich, durch Heirat der weißen Siedler mit indianischen Frauen (weiße Frauen gab es nicht viele in dieser Frühzeit der Kolonie) und durch die Taufe.

Für Theweleit wird dieser Augenblick zu einem „dieser unwiederbringlichen Momente“, wie sie „in der Geschichte ab und zu passieren und sich nicht wiederholen“. Eine weißrot gemischte Population wäre entstanden, die Indianer wären als gleichberechtigt anerkannt gewesen; in einem Brief redet John Rolfe von Weißen und Indianern als „Adams gemeinsame Kinder“. So ist es nicht gekommen, aber, so Theweleit, „die Sohle, die den Boden berührte mit einer ganz anderen Version des Geschehens, war da, ein Fuß war da, der sich entsprechend bewegte und der ebenso zum Gang der Geschichte hätte werden können“. Wenn es so etwas geben würde, könnte man von einer nachgetragenen historischen Utopie reden. Aber an die Stelle von Pocahontas sind die Siedler von der „Mayflower“ als amerikanischer Gründungserzählung eingesetzt worden, und Pocahontas wurde aus der Geschichte getilgt: „Sie gelangte woanders hin, in ihren Parallelstrom: in die Literatur, die Songs, die Mythen.“ Wobei wir wieder bei Peggy Lee wären.

Solange Theweleit nahe an der Pocahontas-Handlung bleibt, was er nicht die ganze Zeit über tut, liest sich das Buch spannend und interessant. Aber Theweleit hat mehr im Sinn, als nur eine historisch geerdete Geschichte gut zu erzählen. Er erhebt durchaus den Anspruch, der gültigen Version der Geschichte, eben der bislang unterdrückten, vergessenen, zu kurz gekommenen, auf der Spur zu sein. Und das ist es denn wohl doch so, dass die Geschichte der Kolonisierung Nordamerikas nicht ganz in ein noch so ausuferndes Buch allein passt. Manche historischen Ereignisse schnurren denn allzu vorschnell auf ein handliches Maß zusammen, damit Theweleit sie akkurat in sein Modell integrieren kann.

Und was die Sache mit dem utopischen Gehalt unrealisierter historischer Möglichkeiten betrifft: Natürlich macht das beim Lesen einen gewissen ästhetischen Schauder. Unsereiner zumindest muss aber gestehen, dass er ihn diesmal nicht über jede einzelne der vielen Seiten getragen hat.

Band I u. IV. Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt a. M. 1999. 727 bzw. 328 Seiten, 68 bzw. 48 DM

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