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■ Streiter für die kulturelle Vielfalt
Édouard Glissant ist das wohl tuende Gegenmittel zu Samuel Huntington: während dieser uns den gewalttätigen Zusammenprall der Kulturen prophezeite, sieht Glissant gerade im Aufeinandertreffen der Kulturen neue, ungeahnte Chancen. Glissants Vision nährt sich aus seiner karibischen Erfahrungswelt. Auf den Karibischen Inseln ist die „Kreolisierung der Gesellschaft“ , die Vermischung der Kulturen und Ethnien, längst Realität. Eine Entwicklung, die sich im Gefolge der Globalisierung weltweit durchsetzt.
Entgegen aller europäischen Identitätshuberei, die kollektive und persönliche Identität in der historischen und ethnischen Verwurzelung festmacht, setzt Glissant auf die „Poetik der Beziehungen“. In diese fließen die Deutungsmuster, Wertesysteme und die Erzählungen der verschiedenen Kulturen ein. So entstehen neue Identitäten.
Die Welt kreolisiert sich, meint Glissant. Dieser Prozess ist für ihn nicht angstbesetzt. Er fürchtet keine kulturelle Vereinheitlichung der Welt. Im Gegenteil: Durch die Zersplitterung und Unsicherheit der Kulturen entwickele sich eine neue Dimension der Interkulturalität.
Die Welt funktioniert nicht linear, konstatiert Glissant, sondern chaotisch. Deshalb führt beispielsweise ein starres System-Denken à la Huntington, dass scheinbar fest gefügte Systeme aufeinanderprallen lässt, in die Sackgasse. Es lässt keinen Raum für neue kulturelle Entwicklungen, und eben diese betont Glissant: „Die Welt fließt, verändert sich.“
Während Glissants neues Buch „Traktat über die Welt“ in Frankreich große Beachtung fand, ist der Denker und Schriftsteller Glissant in Deutschland weniger populär. Wir porträtieren und befragen Glissant als Beitrag zur interkulturellen Diskussion hier zu Lande. Denn auch hier bestätigt die Realität Glissants Visionen. So heißt es zum Beispiel im Beschluss der Bildungsministerkonferenz vom Oktober 1996: „Wo Menschen unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Weltanschaung zusammen leben, verändern und entwickeln sich Weltbilder, Wertsysteme, Orientierungs- und Deutungsmuster, mit denen Menschen ihre Lebenswelt gestalten.“ Die Realität mit ihrer unberechenbaren Vielfalt hat die Wahrnehmung unversöhnlicher Kulturgegensätze längst entkräftet. ed
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