: Die unendliche Geschichte
Die Geburt der Machthaber und der Gesetze ist eine Frage der Ungerechtigkeit der Schlachten. Nun liegen Michel Foucaults Vorlesungen aus den Jahren 1975/76 vollständig auf Deutsch vor. Er stimmt darin eine Eloge auf den politischen Historismus an ■ Von René Aguigah
Theorie hat ihre eigene Schönheit. Luhmanns Vorlesungen etwa erzeugen eine eigentümliche Lust: diese klaren Strukturen! Begriffe werden eingeführt, einer nach dem anderen inhaltlich gefüllt, und allmählich fügt sich das Ganze zu einem symmetrischen Gebäude zusammen. Nicht umsonst hat ein schlauer Mensch Niklas Luhmann einmal den „Hegel aus Bielefeld“ genannt.
Die Vorlesungen von Michel Foucault folgen einem völlig anderen Bauplan: Wiederholungen, Neuanfänge, Fragmente. Er springt drei Gedanken zurück, weil er eine Frage von Studierenden aufgreift; immer wieder betont er, was er eigentlich nicht will; und irgendwann stellt er fest: „Ich habe mich in dem Ganzen da ein wenig verrannt.“ Foucaults Denken „gleicht mehr einer Vulkankette als einem System, das in sich ruht und nahe am Gleichgewicht ist“, hat Gilles Deleuze einmal über das Werk seines philosophischen Freundes gesagt. Das Urteil gilt, im Kleinen, auch für Foucaults Vorlesungen am Collège de France. Zumindest für den Zyklus aus dem Studienjahr 1975/76.
Schriftliche Fassungen davon kursieren schon seit Jahren auf Italienisch, Spanisch, Französisch. Und fünf der elf Vorlesungen sind auf unterirdischen Kanälen – über das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung oder den Berliner Merve Verlag – auch in Deutschland längst zugänglich. Jetzt ist die Vorlesungsreihe komplett erschienen, zwischen den kanonisierenden Buchdeckeln von Suhrkamp.
Foucault denkt in Eruptionen, doch das schließt seine innere Logik nicht aus. Im Gegenteil: Krisen und Erschütterungen sind – noch einmal Deleuze – gerade die „Bedingung einer äußersten Kohärenz“. Was die Vorlesungen von Januar bis März 1976 zusammenhält, ist der Begriff der Geschichte. Foucault lehnt es ab, historische Analysen in Kategorien wie Souveränität und Recht vorzunehmen, denn Staat und Gesetz reichen nicht hin, um die Machtverhältnisse der Moderne unterhalb des kodifizierten Rechts zu fassen. So weit, so bekannt: In der „politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt“, stichelte Foucault in der Studie „Der Wille zum Wissen“. Und setzte seine Methode dagegen: die Analyse variabler Kräfteverhältnisse, zum Beispiel solcher, wie sie in den Reden über Sex anzutreffen waren.
„Der Wille zum Wissen“ ist im Oktober 1976 erschienen; die Vorlesungen sind so etwas wie die Methodologie dazu. Zwar diskutiert Foucault, nicht ausdrücklich und erst recht nicht rein theoretisch, die methodischen Probleme seines bevorstehenden Buches. Aber er bietet mehr als das: Er schreibt die Genealogie seines eigenen Ansatzes und präsentiert so gleichzeitig, was er schon zehn Jahre zuvor angekündigt, aber nie eingelöst hatte: eine Skizze über die Geburt der Geschichte.
Ihr Geburtsdatum ist das 17. Jahrhundert, ihr Ausgangspunkt England. Hier taucht zum ersten Mal das auf, was Foucault „politischen Historismus“ nennt. Anders als die Modelle der Philosophen und Juristen – für die prototypisch Thomas Hobbes' „Leviathan“ steht – eignet sich der historisch-politische Diskurs dazu, königliche Köpfe ins Rollen zu bringen. Er fasst die Geschichte in Begriffen des Krieges: „Die neue Historie möchte im Grunde zeigen, dass die Macht, die Machthaber, die Könige und Gesetze verheimlicht haben, dass ihre Geburt eine Frage des Zufalls und der Ungerechtigkeit der Schlachten ist.“ Diesen politischen Historismus verfolgt Foucault durch die Zeiten, stimmt eine Eloge auf ihn an und entwirft so eine agonale Historik.
Um zu zeigen, wie der historisch-politische Diskurs funktioniert, hat Foucault die Bände eines 1722 verstorbenen Grafen ans Tageslicht geholt: Henri de Boulainvilliers. Er gehörte dem Widerstand an, der sich Anfang des 18. Jahrhunderts gegen Ludwig XIV. formierte. In Boulainvilliers Geschichten fungiert der Krieg als allgemeines „Erkenntnisraster“, und zwar auf drei Ebenen: Zunächst erscheint Krieg nicht als Unterbrechung des rechtlichen Normalzustands, sondern stellt ihn erst her, indem er gesellschaftliche Asymmetrien erzeugt. Dann rückt Boulainvilliers die Armee ins Zentrum seiner Analyse, um von dort aus zu fragen: Wer besitzt Waffen? Wer beruft Soldaten ein? Wer bezahlt sie? Ein solcher „Krieg diesseits und jenseits der Schlacht“ ist die Matrix, auf der sich eine Gesellschaft beschreiben lässt. Und schließlich betrachtet Boulainvilliers den Krieg als Prozess, nicht als „nacktes Ereignis“, sodass er sich weniger für binäre Freund/Feind-Unterteilungen interessiert als dafür, „wie die Starken schwach und die Schwachen stark werden konnten“.
Die Methode des Grafen hat nicht nur Folgen für die Geschichtsschreibung, sie ist ein politischer Brandsatz. Sie rechnet dem Adel Vergessenes vor: seine Opfer für die Krone, die Ursachen seines finanziellen Ruins. Boulainvilliers Blick ist radikal perspektivistisch, denn Subjekt und Objekt seiner Geschichte ist nicht mehr der Souverän, sondern eine „Nation“ – verstanden als eine Gruppe verstreuter Individuen, die ein bestimmtes Interesse, Statut, Gewohnheiten, vielleicht auch eine Sprache teilen: „Der Adel ist eine Nation neben anderen Nationen, die alle im Staat zirkulieren und gegeneinander antreten.“
Diesem pluralen Konzept von Nation stellt Foucault das des Abbé Sieyès gegenüber. Wo Boulainvilliers' Definition formal und lapidar bleibt, geht Sieyès an die Substanz. Am Vorabend der Französischen Revolution schreibt er inhaltlich fest, unter welchen Bedingungen eine Nation entstehen kann: Sie braucht Apparate und Funktionen, das heißt Handel, Handwerk und Landwirtschaft, Armee, Justiz und Verwaltung. Wer darüber nicht verfügt, hat auf der historischen Bühne der Nationen nichts zu suchen. 1789 ist es natürlich der Dritte Stand, der für Sieyès „eine vollständige Nation“ bildet. Er allein kann beanspruchen, die staatliche Totalität zu übernehmen. So koppelt Sieyès die Nation an den Staat – die Verbindung hält bis heute. Mit seiner Politik rückt auch die Geschichtsschreibung den staatlichen Souverän wieder ins Zentrum, mitsamt seiner domestizierenden Effekte.
In Foucaults Genealogie erscheint der universale Anspruch des großen Revolutionärs nur mehr als Modifikation der partikularen und kämpferischen Ambition eines vergessenen Grafen, und das ist die Pointe: So wirft Foucault die fixe Kopplung Nation/Staat zurück in den unendlichen Strudel der Geschichte. Damit gibt er sie frei zur Diskussion – in einer Zeit, in der Nationen lebendig sind wie je: Wenn sich heute die Deutschen gegenseitig beschwören, „die Mauer in den Köpfen zu überwinden“, oder wenn die Albaner im Kosovo morden, dann geht es zwar um ganz unterschiedliche Fronten; aber in beiden Fällen ist, Globalisierung hin oder her, ein Begriff des Nationalen im Spiel. Und jetzt werden die Definitionen mit wirklich harten Substanzen bestritten, mit Ethnien oder Territorien. Foucault trifft, wenn man so will, mit der Geschichte ins Herz der Gegenwart.
Dabei haben seine Vorlesungen bereits ein stattliches Alter. Die bewegten Siebziger sprechen vor allem aus ihrem teils drastischen Stil: Ein „Schlachtenforscher“ begibt sich da auf die Suche nach vergangenem „Kriegsgeschrei“ und „eingetrocknete(m) Blut“. Mag sein, dass manche über so viel Pathos die Nase rümpfen. Aber vielleicht ist unzeitgemäßes Pathos in diesen coolen Tagen genau das Richtige, um auf Foucaults Engagement für einen anderen Begriff des Politischen aufmerksam zu machen. Michel Foucault: „In Verteidigung der Gesellschaft“. Aus dem Französischen von Michaela Ott. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999, 313 S., 48 DM
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